Sylvia wird Dichterin

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Éva Bánki

Sylvia wird Dichterin

Aus dem Ungarischen von György Buda

Filostrato wartete nicht auf die Kellner, er schenkte selbst bernsteinfarbene Getränke in die Kristallkelche und ersuchte Fiametta höflich, sie möge entscheiden, welche Liebesgeschichten sie heute zu hören begehrten. Fiametta richtete den Blumenkranz in ihrem Haar und sagte:

„Die vielen traurigen Geschichten von gestern abend haben unser aller Gemüt beschwert. Wenn ihr mir zustimmt, wollen wir nun von Liebenden hören, die durch den Amor gentile, mit der Hilfe der edlen Liebe fliehen konnten."

Sie wandte sich zur Kristallkugel, woraufhin das Flämmchen erzitterte, doch die Stimme grüßte die Florentiner nicht einmal, ja, es schien, als würde sie die Geschichte gar nicht von Anfang an erzählen.

„Wir haben vielleicht den Anfang versäumt", seufzte Elisa.

„Ich habe den falschen Zug nicht bestiegen, weil ich durchgefallen oder weil ich von den vielen Zigaretten benommen war. An jenem traurigen, regnerischen Abend irrte ich auf dem Bahnhof Kelenföld herum und überlegte, ob noch ein Zug nach Baranya führe. Alles sei möglich, sagte man mir am Schalter und ich erkannte, daß ich vor genau dieser Ungewißheit floh. Ringsum schliefen Obdachlose, die Tafel beim Informationspult zeigte nur die Züge vom frühen Nachmittag. Wann fährt der Zug, fragte ich das Mädchen an der Kasse, das in ein dickes Tuch eingewickelt und mit geneigtem Kopf dasaß. Wer weiß, seufzte sie nur.

Aber ich bitte Sie, so sehen Sie doch nach. Das Mädchen blätterte im Fahrplan, dann schlug sie wegen der Zeitumstellung in einem anderen Fahrplan nach, dann in einem dritten, inzwischen schleifte hinter mir eine leise schimpfende Putzfrau einen großen Kübel quer durch den Warteraum. Das Mädchen sagte gähnend, das würde wohl der Neunzwanziger sein, Abfahrt vielleicht vom Gleis zwei B, möglich, daß es noch durchgesagt werde. Sie war dermaßen teilnahmslos, daß ich sie gern aufgerüttelt hätte. Was sagen Sie zum Krieg, fragte ich, das Mädchen aber zuckte nur leicht die Achseln.

Ich nahm meinen Koffer und folgte langsam der schimpfenden Putzfrau Richtung Unterführung. Ich stieg die Stufen hinunter und versuchte herauszufinden, was geschehen war. Geschehen war eigentlich nichts; wie meine Lehrer sagten, lebten wir im Grenzgebiet immer schon zwischen Krieg und Frieden. Manche meinten, es sei alles in Ordnung; die Welt bestehe nicht aus Kämpfen, das glaubten nur die Bösen, jene Bösen, die an Giftmischerei und Palastrevolutionen Gefallen fänden. Andere entgegneten, nur ein Narr könne nicht sehen, daß ein Bürgerkrieg tobe und Brüder einander bekämpften. Ob es gerade Krieg gibt, das weiß niemand genau, die eine Zeitung vertritt die These des ewigen Friedens, die andere die des ewigen Krieges. Ich denke schon immer darüber nach, warum sich die gegnerischen Parteien Katalanen und Portugiesen nennen, wiewohl die Namen vielleicht noch unergründlicher sind als die Tatsachen.

Meine Eltern lesen keine Zeitungen mehr. So lange meine Großeltern lebten, kochten sie zentnerweise Marmelade und Kompotte ein, mein Vater sammelte Ersatzteile für Taschenradios und Fahrräder, und wir hatten alle Schränke voll mit Bettwäsche, den Keller voll mit Kristallzucker, Zwetschkenmarmelade, Schrauben, Bohnen und Linsen, weil meine Eltern sich erinnerten, im richtigen Krieg habe es nichts zu essen und keine Radio- und Fahrradersatzteile gegeben. Ich habe nie etwas gesammelt. Ich habe, wie mir Großmutter stets tadelnd vorhielt, nur meine Haare wachsen lassen und mich darauf vorbereitet, einmal auf die Universität zu gehen. Du kommst raus von da, sagten meine Eltern immer.

Ich stellte mich auf dem unterirdischen Gang vor den Zugang zu „2B", aber da war niemand, den ich hätte fragen können, ob noch ein Zug nach Baranya führe, und auf der Tafel in der Unterführung waren nur die Gleisnummern und die Zielstationen der Vormittagszüge verzeichnet: Siklós, Siklósszállás, Siklóstanya. Mir war, als sei ich schon in diesen Orten gewesen, jedoch erinnerte ich mich nicht, ob sie einander benachbart waren. Die haben vielleicht eine Art Wörterbuch in der Zentrale, dachte ich, und geben auf der Informationstafel die Stationen in alphabetischer Reihenfolge an. Mir fiel ein, daß der Zug auf der Fahrt nach Hause nie durch Siklósfalva gefahren ist, aber dann beobachtete ich statt zu grübeln lieber zwei fremde Frauen, die aus ihren Körben Zwiebeln in einen Militärrucksack füllten.

Ich hätte nie die Seelenkraft, mir nach einem Markttag die Säcke auf den Rücken zu binden und nach Hause zu schleppen. Ich hatte sonst auch keine Kraft, zu gar nichts, sommers war ich unfähig aufzustehen, sonntags schaffte ich es nicht, die Haare allein zu einem Zopf zu flechten. Als ich beim Aufstehen mit den Locken spielte, dachte ich oft daran, warum ich denn statt Bänder nicht meine Finger in die Haare flöchte, und wenn schon nicht die Finger, dann doch Fingerglieder oder abgeschnittene Fingernägel. Hier angekommen war ich außerstande, meine Haare zu Ende zu kämmen, mir war, als hielte mich beim Lesen eines Briefes die Angst zurück, einen Satz zu Ende zu bringen. Plötzlich standen Soldaten in der Unterführung, so konnte ich jetzt meinen Gedanken nicht weiter nachhängen. Ich schlug die Augen nieder, drückte mich an die Wand, doch faßten sie mir in die Haare, als sie an mir vorbeigingen, einer mit Schafsfellstiefeln zwickte mich in den Arm. Ich trug meine Haare damals wie jetzt offen. Als ich fühlte, daß ich heute wieder keine Kraft für die Prüfung hatte, riß ich mir schnell die Spangen aus den Haaren.

Ich weiß, wenn ich die Haare zum Zopf geflochten trage, denkt jeder, ich sei ein braves Mädchen vom Lande, trage ich sie offen, hält man mich für eine Jüdin. Ich habe keine andere Wahl, wenn ich mir die Haare nicht umfärben oder den Kopf kahlscheren mag – ich weiß nicht, was mich danach noch verraten könnte: meine Augen, die Ohren, der Hals oder die Nase. Eben gab es bei „2B“ ein großes Geschrei, die Soldaten sahen sich die Informationstafel an, sie fluchten und riefen die Ticketkasse von ihren Mobiltelefonen an. Ich richtete meine Haare so, daß die Strähnen mein Gesicht ganz verdeckten und versuchte, auf mich, nach innen zu achten, denn meine Haare erinnerten mich immer an die Dinge.

Einer meiner Großväter war Großbauer, auch heute wohnen wir in seinem alten Haus, der Vater meiner Mutter hingegen gehörte zu den jüdischen kleinen Leuten, dieses „kleine Leute“ sprach meine Mutter immer recht ängstlich aus, als wären „große Leute“ bereits unentschuldbar. Mütterlicherseits hatte ich freilich keine Verwandten, als ich klein war, dachte ich, meinen Großvater hätte niemand jemals gesehen, vielleicht selbst meine Mutter nicht. Damit aber die Welt gerecht bleibe, mußte ich je nach dem, wie der Bürgerkrieg fortschritt oder nicht fortschritt, mich einmal für den einen, dann für den anderen Großvater schämen. An der Uni mußte ich mich für beide schämen. Da ich die Vorlesungen nicht besuchte, belastete mich das alles nicht.

Die Sylvie ist zu verschlossen, die Sylvie spielt immer Verstecken, sagten meine Studienkollegen, die entweder hierher oder dorthin gehörten und immer haargenau wußten, ob es gerade Krieg gab oder nicht. Dann wurde die Unterführung frei und ich stieg schnell hoch zu den Bahnsteigen, hielt mich aber möglichst fern von den Soldaten. Um sie gar nicht zu sehen ließ ich meine Haare vornüber fallen. Das Tändeln der Soldaten hatte mir nicht mißfallen, ich wollte bloß allein sein, mich darauf vorbereiten, wie ich die heutige Prüfung meinen Eltern erklären sollte.

Es nieselte, als ich den letzten Waggon bestieg, und als ich mich auf den Kunstledersitz fallen ließ, überflutete mich die mit nichts vergleichbare Freude, allein zu reisen und bis zuletzt dem Flüstern der Regenfäden zuhören können. Der Regen legte jetzt richtig los, sein Prasseln brach fast durch die Abteildecke, als wollte ein unsichtbarer stählerner Kamm meine Haare strählen. Meine gute Laune war schnell verflogen, kaum rollte der Zug aus der Halle, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, mir eine Fahrkarte zu besorgen. So geht es mir mit den Schals und den Schirmen, eine Zeitlang umklammere ich sie krampfhaft, dann vergesse ich sie. Ich starrte unruhig in die Nacht und befürchtete natürlich, an einer stockdunklen Station aus dem Zug gewiesen zu werden. Die Angst war stärker als der Regen und ich zählte die Minuten, um schneller in Mohács anzukommen.

Der Zug aber, oder war es das Schicksal, wollte nicht klein beigeben. Die Lok keuchte, sie wurde langsamer, als meine Angst aber unerträglich wurde, nahm sie sich zusammen. Mir kamen wieder die vielen Dörfer namens Siklósfalva oder Siklóstanya in den Sinn, aber ich war viel zu unruhig, um Stationsschilder zu lesen, so erlaubte ich mir zumindest das Gefühl, durch namenlose Ortschaften zu brausen. Dabei könnten wir genausogut hier wohnen, dachte ich, und litt unter der Vorstellung, jemand könnte in mein Abteil treten und ein Gespräch anknüpfen wollen. Das ging schon seit Jahren so, und nicht nur auf der Universität: schon die allergeringste Anstrengung ermüdete mich und Angst war meine ständige Begleiterin. Zu allem Überfluß tat nun der Zug, wie ich mich bei den Prüfungen verhalten hatte, er ging auf offener Strecke ein. Ich äugte hinaus und sah Soldaten, die ihre Waffen fröhlich durch das Fenster hinunterreichten und Bäuerinnen, die sich die Kopftücher richteten und dann querfeldein verschwanden.

Ich konnte keinerlei Bahnhofsgebäude erkennen, nicht einmal irgendwelche Häuser. Es hätte mir nichts ausgemacht, wäre jetzt der Krieg ausgebrochen, ich wußte bloß nicht, was da zu tun sei. Ich wartete ein Weilchen zu, drehte meine Locken um die Finger, dann hob

ich mein Gepäck von oben herunter und dachte verwundert, warum mußte ich meinen Koffer überhaupt auf den Gepäckträger hieven, wenn ich schon allein im Abteil saß. Dann stieg ich schnell aus dem Zug, jedoch erfaßte mich die Angst in der stockdunklen Landschaft aufs neue. Wie konnte sie mich erfassen, fragte ich mich, führte sie mich doch schon die ganze Zeit an der Hand. Jetzt war mir aber, als hätte mich selbst die Angst verlassen. Ich dachte an meine Eltern, daran, daß sie sich nunmehr wegen des „außerplanmäßigen Aufenthaltes" sorgten und nicht mehr wegen der nicht abgelegten Prüfung. Was für ein Glück! Stellt euch vor, auf einmal blieb der Zug mitten in der Nacht auf der weiten Pußta stehen, so würde ich es zu Hause erzählen, indessen war es mir klar, das gaukelte mir lediglich die Phantasie vor, niemals könnte ich meinem Vater oder meiner Mutter eine zusammenhängende Geschichte erzählen. Wo aber war da der Zusammenhang, fragte ich mich. Ich setzte mich im Lichtbündel, das aus dem Abteilfenster fiel, auf mein Gepäck und starrte die Dunkelheit an, wobei ich mir überlegte, wie es im Film wäre: bei einem Unfall oder bei Bekanntwerden des Kriegsausbruchs rennen die Passagiere in kopfloser Hast neben den Schienen hin und her.

Mädchen, was ist dir passiert, fragte eine rauhe Stimme aus der Dunkelheit heraus. Ich zuckte zusammen, nicht, weil ich diese Stimme als unangenehm oder als feindlich empfunden hätte, mich amüsierte eher, daß ich in der Dunkelheit nur einen riesigen Kopf, von einem weißen Bart gerahmt, erkennen konnte. Ich stand auf und nahm den Alten näher in Augenschein, er kam mir vor wie ein lustiger Zwerg in einem Overall. Gibt es schon wieder Krieg, fragte ich, wobei ich keine Ahnung hatte, ob der Alte ein Anhänger des ewigen Friedens oder des ewigen Krieges war. Kischintschko njitwo ktjas, sagte der Zwerg fröhlich, und schwenkte seine Laterne vor mir, als ich aufstand. Es war eine Bergmannslampe, und ich fragte den Alten in meiner Verlegenheit, in welchem Bergwerk er arbeite, wo es in dieser Gegend Bergbau gebe, und als ich mich dann wieder gefaßt hatte, wohin die

Soldaten gegangen seien. Kischkuntschojaschtsch, lispelte der Alte, und das verstörte mich vollends, waren wir doch vom Bahnhof Kelenföld abgefahren und ich entsann mich nicht, die Donau auch nur einmal überquert zu haben. Mir fiel die Angabe „2B" ein, dann die in

alphabetischer Reihenfolge aufgelisteten Ortsnamen an der Tafel, die in Windeseile von Soldaten bevölkerte Unterführung. Mir blieb aber keine Zeit zum Grübeln, der Alte schnappte sich meinen Koffer und zerrte mich am Ärmel meiner Strickjacke. Ich fror sehr, daher trug ich

zwei dicke Pullover und darüber eine Strickjacke, denn der Sommer war so kühl, als könnte er sich nicht entscheiden, Herbst oder Frühling zu sein. Na komm, knjomitschno nje, grummelte der Alte, dabei warf seine Grubenlampe blinzelnde halbe Lichtkreise auf die Schienen.

Ich sah mich neuerlich um, ich konnte diesmal wieder keine Lichtmasten oder Buden, geschweige denn ein Stationsgebäude erkennen. Warum hat der Zug angehalten, fragte ich, aber als hätte nicht der possierliche Bergmann meine Frage vernommen, sondern der ganze Zug, verdunkelten sich die Fenster mit einem Schlag. Komm, komm, insistierte der Alte, jetzt zerrte er nicht mehr an nur meiner Jacke, er packte mich am Arm, mach schnell, Mädchen, mach schnell, drängte er mich. Ich bekam Kopfschmerzen, als wir die Schienen entlang rannten, die Gegend war dann doch keine ausgestorbene Einöde, sie war voller

flatternder Kunststoffetzen, Balken und Ziegelbruch. Pomaschtschikoje, zischte der Alte und zog mich am Ellbogen in ein Erdloch, die Höhle erwies sich teilweise als eine Art unterirdisches Magazin, ich sah ganz deutlich die Gitter vor den Fenstern. So bald der Alte die Tür hinter mir geschlossen hatte, sprach er vollkommen normal. Heute essen wir nur gekochte Kartoffeln, seit Wochen haben wir hier nicht einmal einen streunenden Hund gesehen, sagte er. Er besitze in Kiskunsebes oder bei Siklóstanya einen schönen kleinen Garten, einen Zwetschkengarten, aber der Regen habe die Zwetschken alle ruiniert, er habe einen Riesenschaden erlitten, nichts sei für den Winter übrig geblieben, das Fruchtfleisch verderbe ihm auf dem Baum. Das Wort Fruchtfleisch ließ mich zusammenzucken, meine Augen brannten vom Gestank des Petroleums, zudem ließ mir der Alte, während er seiner Ernte nachweinte, den Koffer auf die Zehen fallen. Es war ein altertümlicher Reisekoffer, möglicherweise hatte er noch einem meiner Großväter gehört, wobei ich mich nicht erinnere, welchem der beiden, dem Großbauern oder dem von den „kleinen Leuten". Ich wußte plötzlich, ich sah meinen Koffer zum letzten Mal, selbst dieser Gegenstand kann es kaum erwarten, sich von mir zu verabschieden. Die nach Petroleum riechende Dunkelheit belebte sich, eine feiste Alte schälte sich unter einem mächtigen Deckenberg hervor. Zuerst sah ich nur ihren massigen Kopf, dann ihren massigen Arm in einem Nachthemd. Komm nur, Kleines, ekritscha, ekritscha, ekri, ekri, tscha, tscha, schmatzte sie. Die Fremdsprache, die sie benutzte, glich der des Alten überhaupt nicht, sie wies eine ganz andere Melodie auf; ich argwöhnte, die beiden Alten wollten mir mit dieser Nonsens-Sprache Angst machen. Mag sein, sie sind von irgendwo aus weiter Ferne gekommen, überlegte ich, dann haben sie hier neben den Gleisen ihr Lager aufgeschlagen und schließlich ganz vergessen, welche gemeinsame Sprache sie gesprochen haben. Es war sonderbar, ich hatte gar keine Angst vor ihnen. Der Alte brachte in einem Blechteller Pellkartoffeln und erzählte mir, während ich mich zu Füßen der Alten niederhockte, daß sie einstens Land besaßen, sie waren geachtete gute Bauern gewesen, jetzt hingegen waren sie Flüchtlinge, und lebten davon, was sie neben den Gleisen aufklaubten.

Also ist es tatsächlich wahr, dachte ich, es gibt Krieg und manche müssen ihre Dörfer verlassen und essen, was sie neben den Schienen finden, und können ihre Töchter nicht auf Universitäten schicken.

Du hast wunderschöne Haare, seufzte der Alte, und ich wußte, er war eben dabei, mich mit der neben den Schienen gefundenen Beute zu vergleichen, den nur halb aufgerauchten Zigaretten, dem weggeworfenen Koffer, den Halmrüben. Du hast wunderschöne Haare, sagte er, ich mag dein dichtes, schönes Rot. Er straffte den Rücken und bat mich, mir nach dem Essen sein Anwesen zeigen zu dürfen. Welches Anwesen, fragte ich. Im Zimmer gab es keine Möbel, weder Tisch noch Stühle, von einem Bett ganz zu schweigen, die Alte lag ja selbst auf verdreckten Decken.

Meine arme Frau hat vor Zeiten noch gestickt, sagte der Alte unter Seufzern, als fehlten nicht Stühle noch Bett, sondern die Monogramme vom Rand der Handtücher. Dann wurde meine arme Frau sehr krank, sie wurde bettlägerig, erzählte er, und als ich satt geworden war, führte er mich aus der nach Petroleum stinkenden Bude in eine andere, zu den "Werkzeugen", wo auf einem Haufen verschiedenen Gerümpels ein zerlegter Rasenmäher, ein Benzinkanister und ein Prunkschwert lagen. Gegen die Wildpferde, erklärte der Alte, wie du weißt, versammeln sie sich Ende Oktober auf unserem Anwesen. Ich wußte nichts von frei lebenden Wildpferden im Grenzgebiet und auch nichts davon, daß sich die Bauern mit Schwertern gegen sie verteidigten, der Alte holte aber bereits neue Schätze aus dem Gerümpelhaufen hervor: bläulich glänzende Perücken, ein Fachbuch für Gartenbau und eine Zuckerdose aus Malachit.

Hab nur keine Angst vor mir, Mädchen, ich gebe dir das alles, wenn das Wetter schöner wird, ich will dir obendrein Marillen/Aprikosen geben. Langsam erkannte ich, daß der Alte die Bedeutung der Worte nicht kannte, bloß die Regeln der ungarischen Grammatik, die Marillen und Wildpferde könnte er in jeden anderen Satz einbauen, doch irgendwie fühlte ich mich recht wohl bei ihm. Meine Eltern sind Armenier, ich entstamme einem armenischen Adelsgeschlecht, sagte ich, um den Alten vom weiteren Lügen abzubringen, aber er schien mir nicht schreckhaft zu sein, er lächelte mich an und faßte mir an den Busen. Komm, du Mädchen, ich zeige dir noch etwas anderes. Er riß mich an sich und flüsterte mir ins Ohr, ich könne bei ihnen essen, so viel ich nur wollte, er und die „arme Frau" würden mir nie ein Leid antun.

Die „arme Frau" ging im Zimmer auf und ab, als wir wiederkamen. Sie war so dick, daß sie sich nur langsam und ächzend bewegen konnte, und grantelte, weil ich eine Kartoffel übrig gelassen hatte. Es gibt keine Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit, seufzte sie immerfort, und ich erschrak derart, daß ich den Kopf aufwarf und neuerlich fragte, wo, bei welcher Station ich sei. Netschaji benz, neschtsche, kruk, rief der Alte, und während er die Hand in meine Haare wühlte, drückte er mich mit der anderen Hand auf die Liegestatt nieder. Ich war mir sicher, sie gaben nur vor, Fremde zu sein, daß diese Wörter überhaupt nichts bedeuteten, da riß mir der Alte bereits den Rock herunter und fuhr mir mit der Hand in den Schoß. Er flüsterte mir zu, wenn ich ihn liebte, wäre ich ein braves Mädchen. Ich roch den Gestank von Fett, der seiner Kleidung entströmte, das ist der wahrhaftige Geruch der Wildpferde, dachte ich und schloß für einen Moment die Augen. Der Geruch war unangenehm, aber sehr heimisch, und auf einmal kam die Alte auf uns zu, das riesige Gesicht, die aufgerissenen Augen hielten über uns nachdenklich an. Ja ja, murmelte die Frau langsam.

So vergingen zwölf Jahre. Meine Haare waren mittlerweile noch länger gewachsen und ich mühte mich nicht mit Haarspangen und Bändern ab, ich kämmte es auch nicht jeden Morgen durch, wie es meine Eltern vor undenklichen Zeiten von mir erwarteten. In diesen zwölf Jahren hörte ich nur das Gequake der Alten, ich sprach mit keinem Fremden, las nur die aus den Abteilfenstern geworfenen Zeitungen und wußte bis zuletzt nicht, ob wir Frieden oder Krieg hatten. Im Frühjahr liefen immer Soldaten mit Maschinengewehren über die Pußta, sie riefen Parolen, schüttelten ihre Gewehre, ich aber ging mit dem Alten in jedem Morgengrauen die Schienen ab, um die Patronen und Soldatenmützen einzusammeln. Öfters wurde die Luft von Explosionen erschüttert, auf einmal war dann die Wiese voll mit schreienden Verwundeten, doch nie erfuhren wir, zu welchem Heer diese oder jene Uniformierten gehörten. Nach ihnen gingen nur noch Gespenster durch die Dörfer. Wie weit mag der Krieg fortgeschritten sein, grübelte ich, dazu redeten die neben den Schienen aufgelesenen Zeitungen auch nur wirr durcheinander.

Ich wußte ja lange nicht, ob ich mit den Alten auf der Großen Tiefebene oder in Transdanubien lebte. Die Zeit ging ins Land und in einem der vielen Herbste fanden wir gehenkte Soldaten neben der Böschung. „Tod den Berengaristen", das stand mit Kreide auf dem Mantel der Soldaten geschrieben, zudem wußten wir nicht, wer die Berengaristen

waren und wie sie ins Grenzgebiet gekommen seien. Dieses ganze Durcheinander mit dem neschtsche kruk, den Berengaristen, den Wildpferden und den hier und dort auftauchenden Flüchtlingen erinnerte mich in geheimnisvoller Weise an den Balkankrieg, über den die Zeitungen berichteten, er sei schon lange zu Ende. Ich erfuhr ansonsten die Namen der Alten nicht, wie ich den meinen auch nicht verriet. Vielleicht verheimlichte ich den Namen gar nicht mit Absicht, vielleicht schämte ich mich lediglich wegen des lächerlich modischen

und banalen Namens Sylvia, der den Glauben meiner lieben Eltern an das Moderne ausdrückte. Ich hatte freilich keine Ahnung, wie es ihnen oder meinen Geschwistern erging, und lange Zeit hatte ich gar keine Sehnsucht nach ihnen.

Die Jahre indessen vergingen und bei dem sonderbaren Leben, das wir lebten, hätte ich mich nach und nach sogar an den Namen Sylvia gewöhnen können. Die Tage verstrichen eintönig mit „Aufklauben“, Spazierengehen oder Wachträumen und ich verspürte nicht mehr die Angst, die mich einst im Kreise meiner Familie oder an der Universität gewürgt hatte. Der Alte umsorgte mich, er sammelte Abfälle ein, außerdem verdingte er sich noch als Taglöhner auf den Gehöften. Hatte er nichts zu tun, machten wir gemeinsam Ausflüge: wir brockten Brombeeren, badeten in Teichen, oder gingen einfach nur spazieren. Einmal beschloß der Alte, in der „Werkzeugkammer“ Zwergpapageien zu züchten, damit er mir im nächsten Jahr einen Wintermantel, modische Stiefel und ein Mobiltelefon kaufen könne. Dieser Alte war gar nicht so alt; ich begriff, daß ich ihn so nannte, weil meine Eltern arme Leute ohne Rücksicht auf ihr tatsächliches Alter meistens „Alter“ nannten. War ich erkältet oder hatte ich Halsweh, gab er mir Lindenblütentee zu trinken und hielt meine Hand, fremde Worte murmelnd, bis das Fieber nachließ. Er kämmte im Winter gern meine Haare, gab jeder Strähne einen eigenen Namen und versprach, mich von oben bis unten mit Gold zu bedecken, wenn ich ihn und die Frau nicht verließe.

Meinen Namen verriet ich nicht, aber ich erzählte ihm fast alles aus meiner Kindheit. Nach der ersten Geschichte war ich selbst überrascht, denn meine Eltern hatten mich vor Zeiten als schlechte Erzählerin abgetan. Wir wurden nur von „meiner armen Frau“ zuweilen unterbrochen, die auf ihren Decken liegend schrie, es gäbe keine Gerechtigkeit und welche Schande es sei, daß sie statt Schweinen eine Hure auf ihrem Hof halten müsse. Ihre einzige Freude erschöpfte sich darin, mir ins Gesicht zu starren, während wir es trieben, oder zu erzählen, sie sei die beste Schülerin in ihrer Schule gewesen. Wo war denn diese Schule, fragte ich sie dann, doch die Alte krächzte nur oder sie rühmte sich in ihrer absonderlichen Nonsens-Sprache: krikurejeschtsch, krawko, krah. Meine arme Frau ist sehr krank, seufzte der Alte, der ihr alle Wünsche von den Augen ablas und, wenn sie die Lider schloß, sich nur auf Zehenspitzen in der Behausung zu bewegen wagte. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, sie zu erwürgen, obgleich der Alte, wenn er auch alt und kleinwüchsig war, einen Ehemann abgegeben hätte, wie ihn sich meine Eltern gewünscht hätten.

Im Erdloch oder während unserer Spaziergänge neben den Schienen verspürte ich eine derartige Ruhe, daß ich Lust bekam, Gedichte zu schreiben oder meine alten Schulbücher hervorzukramen. In unserer Nähe wurden Dörfer niedergebrannt, die Pußta war jeden Sommer voll von schluchzenden oder blutenden Flüchtlingen, dennoch schrieb ich Gedichte über das im Morgengrauen erwachende Budapest, über die kleinstädtischen Friedhöfe meiner Kindheit, über die Robinien im Garten meiner Eltern, über die geheimnisvollen Stimmen, die mir vor langer Zeit nächtens Angst einjagten, und dann schrieb ich im Winter eine fröhliche Geschichte über meine Großeltern. Als hätte ich damals die Bilder in einer Zauberkugel gesehen, ich spazierte mit dem Alten tagträumend durch die verbrannten Dörfer, oder ich sah, in ein großes Fichu gewickelt, der Sonne beim Aufgehen zu. Mädchen, Mädchen, sagte der Alte, was täte ich ohne dich, und er schleppte von einer verlassenen Schule Bücher in einem Schubkarren für mich heran. Sonderbarerweise alterte weder ich noch er. Und ich kümmerte mich nicht um die Lebenden, kümmerte mich nicht um meine Verwandten – ich war mir sicher, sie würden mich nicht einmal erkennen.

Im nächsten Frühling aber verstummte unverhofft das ewige Getöse der Waffen und statt Soldaten streiften nun Landvermesser in Zivilkleidern über die Heide. Nur die wehklagende Stimme der Alten war zu vernehmen, die angesichts des Friedens jeden Morgen etwas anderes zum Essen haben wollte. Die Luft war voll von Plänen, wir lebten nicht mehr wie bisher, den spähenden Blick zum Himmel erhoben, der Alte überlegte, in eines der verlassenen Häuser im Dorf zu ziehen. Er überlegte jedenfalls vergeblich, denn nach Verstreichen der zwölf Jahre kehrten die Ideen meiner Eltern zu mir zurück. Ich schrieb meine Gedichte ins Reine, in ein schönes Heft mit hartem Einband, und ich gewann dabei die Überzeugung, unter diesen animalischen, primitiven Umständen würde ich nur mein Leben ruinieren. Eines nebligen Morgens gab ich mir einen Ruck. Ciao, Alter, jetzt muß ich gehen, sagte ich, dann zurrte ich einen Riemen um meine Bücher und stopfte einige Klamotten, darunter das graue Fichu, in einen Militärrucksack.

Der Alte heulte, er drückte meine Hand und ließ mich versprechen, wohin mich das Schicksal auch leite, müsse ich ihn benachrichtigen, ihm mitteilen, daß ich gesund sei und es mir wohl ergehe. Bis dahin lege ich alle schönen Kleider, alle Bücher für dich weg, beteuerte er, komm nur so früh du kannst, heim, verlaß mich nicht. Wir warteten zähneklappernd auf den Zug, es fiel gefrierender Regen, ich aber winkte dem Alten nur leicht zu und bestieg schnell den Zug, wenngleich ich mir nicht sicher war, ob ich nicht gerade jetzt mein Leben ruinierte.

Da saß ich freilich schon im Waggon, in Fahrtrichtung. Meine zusammengebundenen Bücher und den Militärrucksack hatte ich auf den Gepäckträger gehoben, denn ich reiste jetzt nicht allein, das Abteil war voll. Ich blickte mich fröhlich um und genoß den Anblick der lächelnden, hoffnungsfrohen Gesichter. Sobald der Alte hinter der Kurve zurückblieb, kam die Sonne hervor. Gleich nach meiner Ankunft in Budapest und nach der langwierigen Quartierssuche versuchte ich, ihn zu vergessen und meine alten Studienkollegen aufzusuchen.

Budapest war wunderschön, frisch und freundlich, gleichwohl hatte ich keinen Grund, mich dort länger aufzuhalten, ich fand keinen meiner alten Bekannten wieder, also fuhr ich nach Mohács. Die Zeitungen beteuerten zwar alle, im Grenzgebiet habe es seit hundert Jahren keinen Krieg gegeben, die örtlichen Unruhen hätten sich gelegt, die Marktwirtschaft stehe in voller Blüte und die NGOs würden funktionieren, doch fand ich meine Eltern nicht, nur das Eingemachte in der Speisekammer. Sie seien spurlos verschwunden, sagten die Nachbarn, eines Nachts hätten die Freischärler sie verschleppt. Die Eltern meiner Freundin aus Kindertagen sind ebenfalls verschleppt worden, obwohl sie den Zeitungen immer Glauben geschenkt und nie Eingemachtes gehortet haben. Ich versuchte, mich bei den örtlichen Behörden nach ihnen zu erkundigen, mir wurde aber Bescheid getan, ich solle lieber eine Arbeit suchen und ihnen nicht mit meiner Fragerei auf die Nerven gehen.

Ich stand wieder in den kleinstädtischen Friedhöfen meiner Kindertage, die vielen Gräber trugen bekannte und unbekannte Namen, und ich stieß auf die meiner Geschwister. Ich schrieb den katalanischen und berengesischen Behörden, dem Internationalen Roten Kreuz, ließ mir vom lokalen Totenbeschauer weissagen, dazwischen fragte ich die Nachbarn aus, doch mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß von meiner Familie keiner mehr am Leben war. Die Freunde meines Vaters deuteten an, einer meiner sehr entfernten Vettern namens Lajos sei irgendwo am Leben, diesen Lajos hatte ich hingegen nie kennen gelernt. Finanzielle Sorgen hatte ich zunächst nicht, eine Organisation, die sich Freunde der Portugiesischen Kultur nannte, schickte regelmäßig Geld an die Adresse meiner Eltern, als später die Sendungen ausblieben, mußte ich mich nach einer Arbeit umsehen.

Im Bürgerkrieg sind so viele Menschen verschwunden, daß die Arbeitgeber – zum Glück – nicht nach irgendwelchen Diplomen fragten. Ich arbeitete bei Organisationen, die nach Toten forschten, bei einer Versicherungsgesellschaft, dann bei einer Stiftung, deren Zweck sich jeglicher Deutung entzog. Ich hatte nicht nur ein Mobiltelefon, modische Stiefel und einen Wintermantel, sondern dazu noch eine behagliche Wohnung im schönsten Bezirk von Budapest. Und zu guter Letzt fand ich sogar eine Stellung nach meinem Geschmack, ich arbeitete als Lektorin bei einem guten Verlag.

Der Verlag erwartete, daß ich von früh bis spät im Büro hockte, also publizierte ich meine alten Gedichte, räumte sämtliche Preise ab und konnte als Dichterin frei – wenn auch ohne finanziell abgesichert zu sein – von einer Veranstaltung zur anderen reisen. Und als ich der Meinung war, mir könne nun nichts Interessantes mehr passieren, traf ich bei einem literarischen Großereignis in Wien unverhofft auf Lajos, meinen einzigen überlebenden Vetter. Wir wurden einander von einem deutschen Lektor vorgestellt und ich horchte auf, als ich zwischen zwei Cocktails meinen Familiennamen vernahm. Nachdem wir geklärt hatten, daß wir verwandt sind, wollte ich Lajos zum Überleben gratulieren, aber mein Vetter, der distinguierte Herr mittleren Alters kam mir zuvor.

Ach, Sylvia, was hast du doch für einen feinen Instinkt, seufzte er, daß du dich während des Bürgerkrieges so gekonnt versteckt hast. Sein Duzen wunderte mich, Lajos erzählte mir daraufhin, er hätte mich seinerzeit als Baby bei einer Weinlese gesehen. Darauf wußte ich nichts zu antworten, ich nickte nur mit bitterer Miene und erkundigte mich nach den Arbeitsbedingungen bei deutschen Verlagen.

Vielleicht bewerbe ich mich um eine Stelle als Übersetzerin im deutschen Sprachraum, erklärte ich meinem Vetter. Lajos wunderte sich mächtig, du bist ja eine anerkannte Dichterin, sagte er, tut es dir nicht leid, deine Sprache zu verlassen? Das macht nichts, sagte ich Lajos, und dann rutschte es mir heraus, daß ich in letzter Zeit keine Gedichte mehr schreibe.

Als das Stimmchen verstummte, waren die Florentiner vor lauter Verblüffung sprachlos. Sie tranken ein wenig Wein, dann behauptete Pampinea leichthin, bereits viele solcher Erzählungen gehört zu haben. – Denn, meine Freunde, Ihr entsinnt Euch vielleicht der berühmten Königin Guinevere die vom hochgeschätzten Ritter Lancelot vor der Macht der Unterwelt gerettet wurde. Oder der Prinzessin von Tunesien (Anmerkung des Übersetzers: Tunetum? So hieß das damals, oder at-Tunisiya?), die von Don Rigoberto, dem Sohn des Herzogs von Sizilien, aus der Gefangenschaft errettet wurde. – Fiametta nickte bloß: Das sind sehr alte Geschichten. Von dieser Sylvia wissen wir nicht einmal, ob sie zufrieden war, entkommen zu sein.

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Author

Bělohradský, Václav

Vaclav Belohradsky (Praga, 14 gennaio

 

Translator

Bucur, Romulus

Romulus Bucur, schreibt vor allem Lyr