Sozialistischer Realismus und realer Sozialismus

Publication Data

Publisher: Dokumentationstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
ISBN:
ISSN:
Publication Date: 19. Jänner 2017
Edition:
In stock: YES
Email:
Country: Austria
See also:

Jewgenij Dobrenko

 

Sozialistischer Realismus und realer Sozialismus in Stalins (im stalinistischen) Russland

  

Die Erforschung der stalinistischen Kultur hält für den Forscher eine Reihe von Herausforderungen bereit. Dies ist vor allem das Herangehen an die Kulturproduktion. Erstens ist es die Frage, wie einen Mittelweg zwischen zwei allgemeinen und ebenso verzerrten Zugängen zu finden. Einerseits muss entschieden der Gedanke, dass die Kultur, die in einer repressiven Gesellschaft erzeugt wird, nicht vollwertig sei, zurückgewiesen werden. Andererseits muss daran gezweifelt werden, dass die Existenz eines repressiven Apparates, der Zensur vor allem, tatsächlich positiv zu sehen ist.  Und tatsächlich erscheinen die Lieblingserörterungen über metaphorische, allusive (anspielungsreiche) Kunst und äsopische Sprache in der sowjetischen Kunst nichts anderes, als das Preisen der Zensur, die sie erzeugt habe. Auf paradoxe Weise vertrugen sich diese entgegengesetzten Zugänge herrlich in der traditionellen Sowjetologie, die einerseits der stalinistischen Kunst (der Begriff selbst wurde in dieser Tradition als Oxymoron aufgefasst) keine ästhetische Dimension zugestand. Aber andererseits wertete sie die sowjetische Kunst als Form einer gewissen Subversivität, eines Anspielungsreichtums (Allusiviät), die durch die äsopische Sprache sich beinahe mit dem Umsturz des Regimes befasst. Dabei sind sich sowohl traditionelle Sowjetologen als auch Revisionisten darin einig, dass die sowjetische Kunst eine Form der Propaganda ist und jeder nur erdenklichen ästhetischen Charakteristik entbehrt. Interessant dabei ist, dass die Vertreter der sogenannten hohen Wissenschaft, zum Beispiel die Philologen, die mit der strukturalistischen Tradition verbunden sind, in ihrem Begriff der hohen Kunst jegliche politische und ideologische Dimension leugnen.  Neben diesem nahmen traditionelle Philologen, besonders die von ihnen, die mit kanonisierten Figuren arbeiteten, selbst neben der offiziösen Kritik und der Schulpraxis an der Heldenverehrung und Romantisierung der Autoren der Hochkultur des 19. Jahrhunderts teil.    

 

Den Stalinismus als GULAG anzusehen, hieße, die Natur dieses Regimes stark zu vereinfachen. Stalinismus – das ist auch ein Text, der allen hier Anwesenden nahesteht. Aber zu denken, dass der Stalinismus nur Text ist, hieße den historischen Kontext des Regimes nicht zu sehen. Der Stalinismus ist ein Palimpsest. Der GULAG ist der Subtext und der Prätext des Stalinismus. Der Stalinismus existiert nicht ohne GULAG, ebenso wie er nicht ohne Sozialistischen Realismus existiert.

 

Wenn das Ausschmücken der sowjetischen Realität als das höchste Ziel der stalinistischen Kunst erscheint, dann muss die Ästhetik als die wirkliche Metadisziplin des Stalinismus angesehen werden. Es ist nötig den Status der Ästhetik im Stalinismus vom Gesichtspunkt der Traumata der sowjetischen Erfahrung, die in der sowjetischen Kultur kondensiert ist, zu verstehen. Die Sprache des Sozialistischen Realismus ist die Sprache des Traumas. Der Kommunismus war die imaginäre totale Kompensation des Traumas. Das war wohl die einzige Funktion, die er bis zum Ende erfüllte. Folglich kann die stalinistische Kunst als wahrhaftige reine Kunst verstanden werden – die Derealisierung (Entwirklichung) des Lebens erreichte hier ihren Höhepunkt. Das ist eine Kunst der Anästhesie, die die Gesellschaft in einen Zustand der Amnesie führte. Umso größeren Schmerz der soziale Organismus erträgt, um so stärkere Anästhetika braucht er, d.h. umso schöner wird das Leben. Im gewissen Sinne ist die Fähigkeit der sowjetischen Gesellschaft, den Terror zu ertragen, direkt der unerträglichen Schönheit des Stalinismus proportional.

 

Was wir für die Kritik unumgänglich brauchen, ist ein erweiterter Begriff der Kultur. Die revolutionäre Kultur jeden Typs – sei es die faschistische, nazistische oder kommunistische – überwindet die Isolation der vorangegangenen Periode. Indem sie neue Subjekte, neue Bürger, eine Massengesellschaft erzeugt, erweitert die der Epoche angehörende Kultur den sozialen Raum. Die Kultur unter den Bedingungen der zeitgenössischen Diktaturen fließt über die früheren Ufer – sie bewegt sich über die Grenzen des Hofes, der Galerie, des Salons, des Theaters. Sie fließt auf die Plätze, in die öffentlichen Räume der Massen – in  fentlichen Sphäre erweitert sich das Wort Kultur allmählich bis es schließlich alles einschließt – von der Kunst bis zum Sport, von der Ideologie bis zur persönlichen Hygiene. Obgleich die Modelle der traditionellen Versorgung (патронаж) und Institutionen manchmal erhalten bleiben, sind die Auditorien der Kultur die Massen, die mit Hilfe der Kultur organisiert und modernisiert werden müssen.

 

Doch diese soziale Sphäre kann nicht in einer scheinbaren Welt leben. Mussolini nannte einst den Faschismus ein Glashaus. Dabei geht es nicht um Architektur, sondern um die Durchsichtigkeit der Macht. Damit stellte Mussolini sein Regime der Korruption und dem Wirrwarr der Halbdemokratie gegenüber, die seinem Machtantritt vorausgegangen war. Doch die Tradition der Macht ist sowohl in Italien als auch in Russland gerade umgekehrt – es ist die totale Korruption. Durchsichtigkeit bedeutet, dass zwischen den Massen und dem Führer eine direkte Willensverbindung besteht, die nicht durch Prozeduren, Gesetz oder Institutionen vermittelt wird. Gerade in dieser eingebildeten idealen Welt nur kann ein solches Regime existieren. Der ideale Künstler, Schriftsteller, Architekt ist der, der seinen Plan einbringt und seiner Vision gemäß realisiert, ohne dabei den Forderungen der Realität nachzugeben. Das heißt der, der die volle Kontrolle über die Realität hat. Und das ist gerade der Führer.

 

Im ganz anderen [Sinne] als in den vergangenen Epochen und als in liberal-demokratischen Regimen ist die Kultur für diktatorische Regime wichtig. Sie ist wichtig, weil sie hier als integrale Waffe der politischen Kontrolle verstanden wird – als notwendiges Objekt der zentralisierten Planung und Koordinierung, als Mittel, die politischen Subjekte zu erreichen, zu kooptieren und zu interpolieren, als Domäne, die nicht in den Händen der traditionellen Patrone, die individuelle und Klasseninteressen verfolgen, bleiben darf, als einziger Mechanismus der Erzeugungsweise der Macht selbst. Das sind alles Aspekte der politischen Instrumentalisierung der Kultur in Diktaturen. Die Diktaturen und entsprechend die totalitären Kulturen sind das Produkt der die Welt im 20. Jahrhundert ergreifenden Demokratisierung. Die zur verantwortungsvollen historischen Kreativität nicht bereiten Massen kommen mit Mobilisierungsprojekten in Berührung, die dazu berufen sind, sie vor sich selbst zu schützen.

 

Man muss mit dem Hinweis auf die fundamentalen Unterschiede zwischen der Revolutionskultur und der stalinistischen Kultur beginnen. Diese sollten nicht nur auf der Ebene des sozialen Geschmackes, in den Interessen der sozialen Eliten, im bösen Willen Stalins, in der natürlichen politischen Dynamik des postrevolutionären Prozesses, in der Trägheit der bürokratischen Institutionen usw. gesucht werden, sondern in ihrer Synthese, die sich im Unterschied der Funktionen zweier kulturpolitischer Projekte und Situationen zum Vorschein kommt: in der revolutionären (politischen) Kultur war der Sozialismus vor allem ein politisches und ökonomisches Projekt, während in der stalinistischen (entpolitisierten) Kultur der Sozialismus ein zu tiefst repräsentatives Projekt wurde.

 

Ich verstehe den Sozialistischen Realismus als äußerst wichtige (wichtigste) Institution des Stalinismus – eine Institution zur Erzeugung des Sozialismus. Als solche erfüllte sie notwendigerweise auch ästhetische Funktionen, woraus natürlich nicht folgt, dass der Sozialistische Realismus zur Kunst wird (ästhetische Funktionen erfüllten nebenher zum Beispiel die Kleidung, das Schuhwerk oder die Möbel, doch diese „Möbelkunst“, „Modekunst“ oder „Schusterkunst“ ersetzte nicht die grundlegenden Funktionen der Möbelproduktion, Kleider- und Schuhproduktion.) Die Grundfunktion des Sozialistischen Realismus ist, den Sozialismus zu erbauen, die sowjetische Realität, und kein Artefakt. Oder doch, ein Kunsterzeugnis als Realität, von dessen Natur hier die Rede ist.  

 

Die sowjetische Realität kann man nicht „vom Blatt“ lesen. Die Ästhetik ist hier keine Zierde, sondern das Wesen selbst. Was vor der Realität erscheint, das ist außerhalb des Sozialistischen Realismus, erweist sich als gewisse kulturlose Alltäglichkeit, der es noch bevorsteht, zur Lektüre und Interpretation tauglich zu werden. 

 

Verbreitet ist die Auffassung vom Sozialistischen Realismus als ein besonders unästhetisches Phänomen, aber gerade propagandistisches. Man kann jedoch behaupten, dass sich die Grundfunktion des Sozialistischen Realismus nicht auf Propaganda zurückführen lässt, sondern auf die Produktion (Erzeugung) von Realität durch ihre Ästhetisierung; der Sozialistische Realismus erscheint als eine radikale ästhetische Praxis. Das „Verbergen der Wahrheit“, „Schönfärberei“, „Typisierung“, „Romantisierung“ und ähnliches – all das sind nur Mechanismen der Ästhetisierung. Darum also muss der Sozialistische Realismus gerade als ein ästhetisches Phänomen betrachtet werden.

 

Wenn man aus dem Bild des „Sozialismus“ versucht gedanklich den Sozialistischen Realismus auszuklammern – die Romane über die Begeisterung an der Produktion, die Poeme über die fröhliche Arbeit, die Filme über das glückliche Leben, die Lieder und Bilder über den Reichtum des sowjetischen Landes usw. – dann bleibt uns nichts, was wir eigentlich Sozialismus nennen können. Es bleibt uns ein grauer Alltag, alltägliche Routinearbeit, ein ungeordnetes und schweres Leben. Mit anderen Worten, soweit eine solche Realität von jedem beliebigen anderen ökonomischen System attribuiert werden kann, bleibt vom Sozialismus hier im Bodensatz nichts übrig. Man kann darum schlussfolgern, dass der Sozialistische Realismus die symbolischen Werte des Sozialismus anstelle der Realität des Sozialismus erzeugte.

 

Der Sozialistische Realismus produziert ständig symbolisches Kapital, und gerade den Sozialismus. Dieses war offensichtlich die einzige effektive Produktion der UdSSR. Man kann sagen, dass der Sozialistische Realismus die Produktionsweise des Sozialismus war.  Das sind keine „Potjomkinschen Dörfer“, keine „Schönfärberei“, kein „Ausschmücken“, sondern der Ersatz der Realität durch eine neue. Der Sozialistische Realismus ist die Maschine der Umgestaltung der sowjetischen Realität in Sozialismus. Darum ist seine Grundfunktion nicht propagandistisch, sondern ästhetisch und umgestaltend. Die mystische, der Stützen der menschlichen Natur beraubte, politische Ökonomie des Sozialismus kann nicht außerhalb der Ästhetik verstanden werden. Dies war ein von Anfang an eingebildetes und folgerichtig politisch-ästhetisches Projekt.  

 

Traditionell wird von Zensur, die nicht erlaubte die Wahrheit zu schreiben, gesprochen, wohingegen es eine kolossale Erzeugung „künstlerischer Produktion“ gab, die als Erzeugung von Lüge gilt. Es ist jedoch wert zu berücksichtigen, dass diese riesige Herstellung von sprachlichen Bildern, die das ganze sowjetische Medium einnimmt, nicht nur das politische Unbewusste beginnt zu bestimmen, sondern auch die ganze Sphäre des Eingebildeten (Imaginären). Nach Jahren kehren alle diese Bilder für die neuen Generationen als „Wahrheit“ zurück: die Menschen sehen die Welt schon als solche. Der Sozialistische Realismus erzeugte keine „Lüge“, sondern Bilder des Sozialismus, die durch die Wahrnehmung als Realität zurückkehren, und gerade als Sozialismus.

 

Wenn wir diese Produktion mit der bekannten marxistischen Formel beschreiben: Ware ist Geld ist Ware, so erhalten wir: Realität ist Sozialistischer Realismus ist Realität. Nur die neue Realität, die durch die Feuerprobe der Mimesis des Sozialistischen Realismus geht, ist schon Sozialismus. Der Mechanismus der Verwandlung erscheint uns in einem folgerichtigen Wechsel einer Reihe von Etappenformen: Die Realität ist ihre Verwandlung in Sozialistischen Realismus (die Schaffung des Mehrwerts) und ist die verwandelte (schon „sozialistische“!) Realität (des Sozialismus in Mehrwert).   Wie auch immer die sowjetische Realität gewesen sei (und sie war vor allem ein System der persönlichen Macht, die letzten Endes sowohl der Kollektivierung als auch der Modernisierung unterworfen war), so brauchte man doch die Kunst, um diese Realität zu Sozialismus zu machen.  Gerade in der Kunst lässt sich die sowjetische Realität durch den Sozialistischen Realismus in Sozialismus versetzen und verwandeln. Mit anderen Worten, der Sozialistische Realismus ist eine Maschine zur Destillation der sowjetischen Realität in Sozialismus. Der Sozialistische Realismus muss darum nicht nur nach der Qualität der Produktion gewisser Symbole begutachtet werden, sondern als Produktion von visuellen und verbalen Ersatzstoffen der Realität. Darum ist die Funktion des Sozialistischen Realismus im politisch-ästhetischen Projekt des „Realen Sozialismus“ die Funktion, den Raum des „Sozialismus“ gänzlich mit Bildern der Realität auszufüllen.        

 

Der Sozialismus wurde in Russland wie eine Ware erzeugt, „ursprünglich“ für den „Markt“ der „Weltrevolution“ bestimmt. Es wäre jedoch ein Fehler zu denken, dass mit dem Fall (der Niederlage) der Anhänger der permanenten Revolution und mit dem Sieg „des Sozialismus in einem Land“ dieser „Warencharakter“ des Sozialismus abgenommen habe. Jedoch bis zur Bearbeitung durch den Sozialistischen Realismus hat die „sowjetische Wirklichkeit“ selbst an sich keinerlei Wert (gerade darum wird sie ständig im Sozialistischen Realismus und in der offiziellen Propaganda derealisiert), d.h. in der „rohen Form“ verfügt sie nicht über die Qualität einer ideologischen Ware. Nur nach der Bearbeitung erscheint die „verkaufbare Realität“ („Warenwirklichkeit“) (d.h. der Sozialismus) – eine Art angereichertes Uran.

 

Nehmen wir uns jetzt die Frage vor: was sind der Produktionsroman, das Kolchospoem, das patriotische Lied oder der historisch-revolutionäre Film anderes als die monopolisierten Mittel der Produktion des Haupt- und einzigen Endprodukts der sowjetischen Gesellschaftsordnung – des Sozialismus. Im Wesentlichen war auch der Sozialismus das Hauptkapital der sowjetischen Staatsform von den ersten bis zu letzten Tagen der sowjetischen Herrschaft.

 

Nicht ganz richtig (genau) ist der Gedanke, dass der Sozialistische Realismus in der Qualität einer Realität, wenn nicht einer „Wirklichkeit“, so irgendein ideologisches Konstrukt „beschreibt“, dass dies eine gewisse „Mimesis der Ideologie“ sei. Unterdessen besteht die Grundaufgabe des Sozialistischen Realismus, um mit Marx zu sprechen, nicht darin, „die Welt zu beschreiben, sondern darin, sie zu verändern.“ Die Ideologie materialisiert sich in der stalinistischen Kunst, und wird nicht in ihr beschrieben oder dargestellt.  Die sozialistisch-realistische Deskriptivität ist radikal und selbstreferentiell: der Sozialistische Realismus beschreibt eine Welt, deren Existenz nur er selbst bezeugen kann. Der Sozialismus existiert auch in dem Maße, sofern er nicht so sehr „beschrieben“, als durch den Sozialistischen Realismus, der sich in einen mächtigen Mechanismus der Kontrolle verwandelt und durch das Produktionssystem der Bilder und Diskurse – hinter der Sphäre des politischen Unbewussten, konstruiert und realisiert wird.

 

Das erlaubt im Sozialistischen Realismus keine „Propaganda“ (zumindest ein Phänomen, deren Funktionen nicht auf propagandistische zurückgeführt werden können) zu sehen, sondern ein System, das eine gewisse Realität erzeugt. Wenn diese Realität auch nicht „wahrhaftig“ war, so war sie zweifellos die einzige in rechtskräftiger Form gefasste. Die ganze übrige Realität (d.h. die Realität per se) blieb stumm (daher das Mandeľštamsche „das Land nicht fühlend“), blieb nicht rechtskräftig und war darum jeder Ausdruckskraft bar. Es gehört sich, das hier wirkende Gesetz der Bewahrung der sozialen Energie vollkommen zu erkennen: umso mehr sich der Sozialismus realisiert, umso mehr derealisiert sich das Leben. Den Mechanismus der Realisierung und die gleichzeitige Derealisierung des Lebens nenne ich auch Sozialistischen Realismus.

 

Der Inhalt des stalinistischen Projektes lässt sich auf das System der persönlichen Herrschaft, der letzten Endes die einen oder anderen wirtschaftlichen Maßnahmen (Modernisierung, Planmäßigkeit, Kollektivierung) unterworfen waren, zurückführen. Dieses System in den Kategorien des Sozialismus zu beschreiben, war sogar in der stalinistischen Zeit außerordentlich schwierig. Darum ließ sich die repräsentative Grundfunktion der ideologischen Maschine darauf zurückführen, dass dieses real wenig anziehende System auch in anziehender Gestalt „des Sozialismus überhaupt“ oder „des Sozialismus als solches“ vorgestellt werden sollte. Also, der „reale Sozialismus“ ist ein System der Techniken, das politisch-ideologische Projekt zu legitimieren und ihn in der Qualität des Sozialismus zu repräsentieren (das, was in der UdSSR aufgebaut ist – das ist auch Sozialismus).

 

Das ökonomische und politische Hauptereignis der sowjetischen Epoche, der Inhalt und die Aufgabe des Stalinismus war natürlich nicht der „Sozialismus“, sondern die Modernisierung des Landes und der Übergang zur „disziplinierten Gesellschaft“. Die wirtschaftliche Natur des stalinistischen Staatssozialismus selbst, die politische Gesellschaftsordnung des Polizeistaates selbst, der im postrevolutionären Russland aufgebaut (und genauer wiederhergestellt) wurde, brauchte eine disziplinierte Gesellschaft. Jedoch die russische Gesellschaft, die auf einer prädisziplinierten Tradition beruhte, war – weder politisch, noch ethisch, weder institutionell, noch kulturell - reif für die „disziplinierte Gesellschaft“. Das bestimmte die Spezifik des Stalinismus als Vorhaben zur Schaffung einer Industriegesellschaft in prädisziplinären Formen. Die ökonomische Grundlage der sowjetischen Gesellschaft war ein Staatskapitalismus mit starken Elementen des Feudalismus (Kolchose, Bürokratie), der sich als Sozialismus ausgab. Das Resultat war die Überlastung der Sphäre der Repräsentation: Russland versuchte sich zum wiederholten Male als etwas auszugeben, was es nicht war. Dieses Mal sich als Industriegesellschaft oder als „große Rückkehr“ in der Qualität eines „großen Sprunges“ darzustellen. Der Übergang zum „Sozialismus“ verwirklichte sich darum vor allem gerade diskursiv.

 

Der sowjetische Sozialismus ist vor allem Schauspiel des Sozialismus. Wie bekannt ordnete Marquis de Custine die Besorgtheit in Russland um die repräsentive Seite der Wirklichkeit wie es scheint der Epoche Monomachs zu. Selbst wenn eine solche Annahme als eine historische Überspannung erscheint (was sie zweifellos ist), nahm das Problem in der historischen Anekdote sowieso schon lange seine endgültige Form an. Wobei es in der historischen Perspektive nicht mehr klar ist, ob es um eine Anekdote oder einen Mythos geht. Der Mythos war so mächtig, dass der Begriff „Potjomkinsche Dörfer“ selbst in die ausländischen Sprachen einging und ein Appellativ wurde.

 

Das bezieht sich auch auf das postsowjetische Russland.  Hier gehen wir von der wesentlichen Hauptsache des russischen sozialistischen Projektes aus, das häufig gar nicht formuliert und begriffen wird: Die Revolution wurde für Russland mit seinem jahrhundertealten Zug in das „europäische Haus“ (und dass mit der Ambition, Lehrer seiner Herren zu werden) das wahrhaftige Tor in die europäische (und das heißt auch Welt-) Geschichte. Russland erschien die Chance, nicht einfach mit „seinem“ lokalem,  sondern gerade globalen europäischen Projekt in Europa durch den Sozialismus einzugehen.  In diesem Eintreten war auch deshalb so viel „Stolz“, dass in ihm hauptsächlich das uralte Trauma der europäischen Minderwertigkeit überwunden wurde.  Jedoch wie wichtig dieses Eintreten auch war, es konnte nicht scheinbar sein. Es änderte sich nichts: Russland trat in Europa ein wie zurzeit Custines: durch den Diskurs und die Repräsentation, der sich diesmal als „Sozialismus“ ausgab. Diesen Sozialismus kann man in Übereinstimmung mit der Charakteristik der russischen „einholenden Entwicklung“ als „einholenden Diskurs“ bestimmen.

 

 Die Kulturgeschichte Russlands – das ist auch die unendliche Geschichte der Suche nach der nicht stattfindenden Identität. Indem es sich bemühte, den Westen zu kopieren, beschritt Russland immer den Weg der Camouflage, wenn es den Staatsfeudalismus der Epochen Peters und Katharinas unter der Bezeichnung „aufgeklärtes“ Europäertum (европеизм) repräsentiert, wenn es im 20. Jahrhundert das totalitäre Polizeiregime des feudalen Kolchosen-Staatssozialismus unter dem Namen „Sozialismus“ camoufliert und zuletzt die postsowjetische Realität des Putinschen Polizeistaat unter der Marke europäische „Demokratie“ camoufliert. Jede dieser Epochen arbeitete ihre Repräsentationsstrategien aus, neigte zu dieser oder jener Form der Camouflage und Derealisierung des Lebens und dennoch war der Sozialistische Realismus die folgerichtigste, reifste, effektivste und vollendetest von ihnen.

Социалистический реализм и реальный социализм