Gedichte von László Villányi

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Publisher: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publication Date: 25. Mai 2025
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In stock: YES
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Country: Hungary
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László Villányi

Botschaft
 
Eine Frohnatur auf Durchreise schrieb es wohl,
oder ein verklemmter Jugendlicher aus der Gegend,
der nächtelang seinen Plan schmiedete,
weiße Kreide sammelnd und Mut fassend;
für einige Tage brachte er wahrlich Chaos
in die Struktur der Schulen, Büros und Fabriken,
bis die Mädchen sich genau ausrechneten,
um wie viele Minuten sie früher aufstehen müssen,
um den gewaltigen Umweg zu gehen;
denn wo sie auch in der Stadt wohnen,
ihr Weg führt sie zur Flugbrücke, dort
wuseln sie morgens, mittags, abends herum,
um gierig oder jeden Buchstaben liebkosend
die auf die Stahlplatte geschriebene Botschaft
zu lesen: „Mädels, ich bete euch an”;
der Museumsfotograf mit neben seinem langen Bart
baumelnden Gerätschaften rückt wieder vergeblich aus,
eine Aufnahme – vom schönsten Schriftzug in der Geschichte
der Stadt – kann er auch nachts nichts machen,
denn nicht nur Mädchen pilgern dorthin,
sondern auch lächelnde Frauen und Mütterchen:
mit zartem Stolz wollen sie daran teilhaben;
ändern kann daran auch der Regen nichts,
auch wenn er die Buchstaben verblassen und schwinden lässt,
und später gibt’s nicht mal eine vage Antwort
auf das Warum, der Weg wird beibehalten, die Brücke
queren auch die Enkelinnen und Urenkelinnen täglich.
 
 
 

Nach dem Rasieren

 

Eine lange Wunde heilt an meinem Mund. Nach ihren eigenen Regeln. Eine Wespe

saust durch die Küche, kollidiert und bricht zusammen. Wie sie von meiner Stirn,

zumindest so viel will ich auch vom Vormittag haben.

Ich öffne weit das Fenster. Als würde ich mich befreien und davonfliegen,

schwerelos Richtung Fluss. Am Ufer spinnt eine Spinne ihr Netz. Sie irrt nicht

von den Bäumen her, jede Bewegung sitzt.

Ich wate durch 30 Jahre, Matsch quillt mir durch die Finger. Eine Muschel öffnet sich,

seltsam schwebend treibe ich dahin. Ich schmecke Apfel im Mund: die Botschaft

explodierter Sterne. Jemand kennt mich.

 

wenn sie kommt

Gedicht einer unbekannten chinesischen Dichterin

 

Wie schön sich dein hochgestecktes Haar

verfängt, sagte er verlegen, und still in mir

dachte ich, wenn die Zeit der Liebe kommt,

soll auch mein Atem dieses Schicksal teilen.

 

war es das

Gedicht einer unbekannten albanischen Dichterin

 

Sobald ich ihn sah, fühlte ich mich umfangen,

die ganze Nacht betrachteten wir uns, gegen Mitternacht

stellte sich heraus, er reist weiter, war es das schon,

fragte ich zerknirscht, und er breitete die Arme aus.

 

 

der Geschmack

Gedicht einer unbekannten kambodschanischen Dichterin

 

Gerade biss ich in den Apfel, als er mir in dem seltsamen

Grüppchen auffiel, ich hielt das Stück im Mund (als wäre

der Geschmack in seinem), schob mein Rad geradeaus,

seinen Blick spürend, und begann erst an der Ecke zu kauen.

 

 

 

 

 

mit mir

Gedicht einer unbekannten burmesischen Dichterin

 

Ich schreibe ihn zu mir, nach und nach betrachtet er mit mir die Wolken

und lauscht dem Regen, wieder und wieder kehrt er an Orte zurück,

an denen er mich schon sah, an einem malt er sich unser Treffen aus,

nur dauert es hoffentlich nicht Jahre, bis er seinen ersten Satz ersinnt.

 

 

 

Der Angekommene

                  für István Ágh

 

Viele Jahre lang ließ er seine Zeit liegen, suchte verloren,

wie als er vor dem Geschäft statt der Hand seiner Mutter

jene einer fremden Frau ergriff, auch sich selbst

empfand er als fremd, nur temporär konnte er frei sein;

so wie der Berg sich in Nebel hüllt und dennoch da ist,

so fand er zu seiner Wahrheit, die er schon als Kind gekannt hatte.

 

Schlüsselring

 

Wohin er auch ging, in jeder Stadt, auf irgendeiner Brücke,

in einer Gasse, Straßenbahn, im Bus, fand er garantiert einen Schlüssel,

als hätten sie nur darauf gewartet, auf seinem Ring Platz zu finden,

mit den Jahren bewegt er sich immer vertrauter in den Zimmern

der fremden Wohnungen, kennt die starren Gewohnheiten der Bewohner,

was sie frühstücken, wer sich morgens die Haare wäscht, wer duscht,

und wer lieber in der Wanne badet, auswendig kennt er ungesagte

oder wiederkehrende Sätze, die bevorzugten Farben der Hemden

und Röcke, er hört die im Schlaf gemurmelten Bitten, sieht die in nur

einer Nacht entstandenen Knochenauswüchse, mit unermüdlicher

Neugier wandelt er durch das Labyrinth der nicht gelebten Leben.

 

 

Universen

 

Ein Gelehrter stellte die Theorie auf,

dass nicht der Urknall der Anfang war,

das Universum davor

hinterließ sogar einige Spuren,

aber was spricht eigentlich,

wenn ich’s mir recht überlege,

gegen etliche Urknalle,

etliche Universen,

etliche Erden,

etliche vergangene Leben,

wir sind nur ein weiterer ermutigender Versuch,

wobei man sich fragt, ob eine Tendenz

zur Besserung vorliegt,

um eine immer vollkommenere Welt zu erschaffen,

die Blumen etwa könnte man abhaken,

und das nächste Mal sprechen Hunde

und Katzen in ganzen Sätzen zu uns,

nach einigen Urknallen verschwindet dann

die menschliche Gewalt

und das Töten im Namen Gottes,

Hass wird uns fremd sein,

unser Geschlecht wird sich als weniger misslungen empfinden,

bloß mit immer raffinierteren seelischen Problemen wird es

sich plagen, denn ohne die wäre das Dasein sinnlos.

 

 

An der Strudlhofstiege

für Mihály Szilágyi

 

Vom Abend in den Morgen

vom Februar in den Oktober

führt dein Spaziergang

jede Treppenstufe

steht für ein Jahrzehnt

aus anderen Zeiten kommt

der Flug der Meise

der Duft des Grünen Veltliners

als er dich erblickt

schüttelt Tandori

vor Freude die Faust

und nickt mit dem Kopf

hinüber zur Biegung

wo Doderer lungert

erneut wird spürbar

du bist mehr als dein Leben

neu geboren und allgegenwärtig

ist die Schönheit.

Annäherungen an einen zweizeiligen Traum

 

 

berauscht von der Liebe

steigen sie in den Zug

mit geschlossenen Augen sehen sie einander

der Schaffner verlangt keine Fahrkarte

 

als lehnten sie an einem Felsen

und lauschten dem Meer

 

aus ihren Deckenlagern

kriechen die Obdachlosen an die Sonne

kosten vom Wein des anderen

und träumen von besseren Zeiten

 

als lehnten sie an einem Felsen

und lauschten dem Meer

 

weithin hallt ihr Lachen

es gilt Fröhlichkeit zu verbreiten

die Frauen sind etwas angeheitert

doch die Einsamkeit lässt sie verstummen

 

als lehnten sie an einem Felsen

und lauschten dem Meer

 

keine Spritzen mehr

sie tauschen Erinnerungen aus

unter großem Gestöhne

schütteln sie ihre Kissen auf

 

als lehnten sie an einem Felsen

und lauschten dem Meer

 

ihre Körper berühren sich flüchtig

während sie ihre Plätze ertasten

sie wenden sich einander zu

können aber nicht sehen, wie schön sie sind

 

als lehnten sie an einem Felsen

und lauschten dem Meer

 

ordentlich beschwipst

bestellen sie die letzte Runde

die Probleme der Welt wurden geklärt

ihre Weisheit ist für heute erschöpft

 

als lehnten sie an einem Felsen

und lauschten dem Meer

 

auf der Verkehrsinsel

im Schneidersitz protestierend

und mit gesenktem Kopf

harren die jungen Mädchen aus

 

als lehnten sie an einem Felsen

und lauschten dem Meer

 

sie schleppen sich bis zur Bank

sinken nieder und lachen zusammen

wie kann man nur so alt sein

indes weicht der Schmerz langsam

 

als lehnten sie an einem Felsen

und lauschten dem Meer

Author

László Villányi

László Villányi wurd

 

Translator

Ágnes Nagy

 
Bécs