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Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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25. Mai 2025
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YES
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Country: Hungary
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László Villányi
Nach dem Rasieren
Eine lange Wunde heilt an meinem Mund. Nach ihren eigenen Regeln. Eine Wespe
saust durch die Küche, kollidiert und bricht zusammen. Wie sie von meiner Stirn,
zumindest so viel will ich auch vom Vormittag haben.
Ich öffne weit das Fenster. Als würde ich mich befreien und davonfliegen,
schwerelos Richtung Fluss. Am Ufer spinnt eine Spinne ihr Netz. Sie irrt nicht
von den Bäumen her, jede Bewegung sitzt.
Ich wate durch 30 Jahre, Matsch quillt mir durch die Finger. Eine Muschel öffnet sich,
seltsam schwebend treibe ich dahin. Ich schmecke Apfel im Mund: die Botschaft
explodierter Sterne. Jemand kennt mich.
wenn sie kommt
Gedicht einer unbekannten chinesischen Dichterin
Wie schön sich dein hochgestecktes Haar
verfängt, sagte er verlegen, und still in mir
dachte ich, wenn die Zeit der Liebe kommt,
soll auch mein Atem dieses Schicksal teilen.
war es das
Gedicht einer unbekannten albanischen Dichterin
Sobald ich ihn sah, fühlte ich mich umfangen,
die ganze Nacht betrachteten wir uns, gegen Mitternacht
stellte sich heraus, er reist weiter, war es das schon,
fragte ich zerknirscht, und er breitete die Arme aus.
der Geschmack
Gedicht einer unbekannten kambodschanischen Dichterin
Gerade biss ich in den Apfel, als er mir in dem seltsamen
Grüppchen auffiel, ich hielt das Stück im Mund (als wäre
der Geschmack in seinem), schob mein Rad geradeaus,
seinen Blick spürend, und begann erst an der Ecke zu kauen.
mit mir
Gedicht einer unbekannten burmesischen Dichterin
Ich schreibe ihn zu mir, nach und nach betrachtet er mit mir die Wolken
und lauscht dem Regen, wieder und wieder kehrt er an Orte zurück,
an denen er mich schon sah, an einem malt er sich unser Treffen aus,
nur dauert es hoffentlich nicht Jahre, bis er seinen ersten Satz ersinnt.
Der Angekommene
für István Ágh
Viele Jahre lang ließ er seine Zeit liegen, suchte verloren,
wie als er vor dem Geschäft statt der Hand seiner Mutter
jene einer fremden Frau ergriff, auch sich selbst
empfand er als fremd, nur temporär konnte er frei sein;
so wie der Berg sich in Nebel hüllt und dennoch da ist,
so fand er zu seiner Wahrheit, die er schon als Kind gekannt hatte.
Schlüsselring
Wohin er auch ging, in jeder Stadt, auf irgendeiner Brücke,
in einer Gasse, Straßenbahn, im Bus, fand er garantiert einen Schlüssel,
als hätten sie nur darauf gewartet, auf seinem Ring Platz zu finden,
mit den Jahren bewegt er sich immer vertrauter in den Zimmern
der fremden Wohnungen, kennt die starren Gewohnheiten der Bewohner,
was sie frühstücken, wer sich morgens die Haare wäscht, wer duscht,
und wer lieber in der Wanne badet, auswendig kennt er ungesagte
oder wiederkehrende Sätze, die bevorzugten Farben der Hemden
und Röcke, er hört die im Schlaf gemurmelten Bitten, sieht die in nur
einer Nacht entstandenen Knochenauswüchse, mit unermüdlicher
Neugier wandelt er durch das Labyrinth der nicht gelebten Leben.
Universen
Ein Gelehrter stellte die Theorie auf,
dass nicht der Urknall der Anfang war,
das Universum davor
hinterließ sogar einige Spuren,
aber was spricht eigentlich,
wenn ich’s mir recht überlege,
gegen etliche Urknalle,
etliche Universen,
etliche Erden,
etliche vergangene Leben,
wir sind nur ein weiterer ermutigender Versuch,
wobei man sich fragt, ob eine Tendenz
zur Besserung vorliegt,
um eine immer vollkommenere Welt zu erschaffen,
die Blumen etwa könnte man abhaken,
und das nächste Mal sprechen Hunde
und Katzen in ganzen Sätzen zu uns,
nach einigen Urknallen verschwindet dann
die menschliche Gewalt
und das Töten im Namen Gottes,
Hass wird uns fremd sein,
unser Geschlecht wird sich als weniger misslungen empfinden,
bloß mit immer raffinierteren seelischen Problemen wird es
sich plagen, denn ohne die wäre das Dasein sinnlos.
An der Strudlhofstiege
für Mihály Szilágyi
Vom Abend in den Morgen
vom Februar in den Oktober
führt dein Spaziergang
jede Treppenstufe
steht für ein Jahrzehnt
aus anderen Zeiten kommt
der Flug der Meise
der Duft des Grünen Veltliners
als er dich erblickt
schüttelt Tandori
vor Freude die Faust
und nickt mit dem Kopf
hinüber zur Biegung
wo Doderer lungert
erneut wird spürbar
du bist mehr als dein Leben
neu geboren und allgegenwärtig
ist die Schönheit.
Annäherungen an einen zweizeiligen Traum
berauscht von der Liebe
steigen sie in den Zug
mit geschlossenen Augen sehen sie einander
der Schaffner verlangt keine Fahrkarte
als lehnten sie an einem Felsen
und lauschten dem Meer
aus ihren Deckenlagern
kriechen die Obdachlosen an die Sonne
kosten vom Wein des anderen
und träumen von besseren Zeiten
als lehnten sie an einem Felsen
und lauschten dem Meer
weithin hallt ihr Lachen
es gilt Fröhlichkeit zu verbreiten
die Frauen sind etwas angeheitert
doch die Einsamkeit lässt sie verstummen
als lehnten sie an einem Felsen
und lauschten dem Meer
keine Spritzen mehr
sie tauschen Erinnerungen aus
unter großem Gestöhne
schütteln sie ihre Kissen auf
als lehnten sie an einem Felsen
und lauschten dem Meer
ihre Körper berühren sich flüchtig
während sie ihre Plätze ertasten
sie wenden sich einander zu
können aber nicht sehen, wie schön sie sind
als lehnten sie an einem Felsen
und lauschten dem Meer
ordentlich beschwipst
bestellen sie die letzte Runde
die Probleme der Welt wurden geklärt
ihre Weisheit ist für heute erschöpft
als lehnten sie an einem Felsen
und lauschten dem Meer
auf der Verkehrsinsel
im Schneidersitz protestierend
und mit gesenktem Kopf
harren die jungen Mädchen aus
als lehnten sie an einem Felsen
und lauschten dem Meer
sie schleppen sich bis zur Bank
sinken nieder und lachen zusammen
wie kann man nur so alt sein
indes weicht der Schmerz langsam
als lehnten sie an einem Felsen
und lauschten dem Meer
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