Die Zahl der Bestien

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Publisher: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur, DomL
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Publication Date: 16. Feber 2015
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In stock: YES
Country: Russian Federation
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Oksana Timofeeva

Zahl der Bestien

Bevor ich direkt zum Vortrag, dem ich den Titel „Zahl der Bestien“ gegeben habe, übergehe, würde ich Ihnen gern in Kürze mein Forschungsprojekt, das der Analyse verschiedener Formen philosophischer Repräsentionen des Tieres gewidmet ist, vorstellen. Die Philosophen beunruhigte stets das Thema des Unterschieds des Menschen von anderen Tieren, und als Qualitätskriterien eines solchen Unterschieds dienten zu verschiedenen Zeiten das rationale Denken, die Sprache, die Arbeit, die Sexualität oder das Wissen um die eigene Vergänglichkeit. Jedoch muss ich gleich sagen, dass die Frage danach, unter welchen Umständen der  Menschen als Tier erscheint und unter welchen nicht, mich nicht besonders interessiert. Viel wichtiger ist nach meiner Ansicht das, wie die Grenze zwischen Tieren und Menschen innerhalb des einen oder des anderen Diskurssystemes produziert wird und welche Kategorien oder Begriffe in diese Produktion herangezogen werden.

Wie teilweise Gilbert Simondon bemerkt, existieren zwei klassische Strategien im Verhältnis zu den Tieren. Die Strategie des Ausschlusses gründet auf der Vorstellung von der uranfänglichen ethischen und ontologischen Überlegenheit des Menschen, der über einen gewissen exklusiven Zugang zum Sein, zum Wohl, zur Idee, zur Freiheit u.ä. verfügt. Zwischen dem Menschen und allen übrigen lebendigen Wesen besteht nach dieser Strategie ein Riss. Die Strategie des Einschlusses geht von der Idee der Verwandtschaft und der Verbindung aller Ebenen des Seins aus, wobei diese jedoch hierarchisch geordnet sind.

Man kann anmerken, das in Systemen, die auf dem Einschließung basieren, wie den Philosophien Hegels und Aristoteles – die Tiere meist aufgrund der grundlegenden Einheit der Welt „anthropomorph“ und „harmlos“ sind, wobei diese Welt erklärbar ist. Entsprechend der Logik des Ausschlusses – zum Beispiel bei Descartes oder Heideggers – die auf dem Misstrauen gegenüber dem Fremdling (????? besser Tschusch) gegründet ist, verbirgt die unvernünftige und nicht berechenbare Natur des Tieres in sich eine Quelle der Gefahr. Die Tiere werden hier verdächtig. Sie kommen von draußen her. Sie sind von Geburt an aus einer anderen, unmenschlichen Welt.

Doch diese Diskurse sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Beide dienen der Bestätigung und Aufrechterhaltung einer bestimmten Ordnung der Dinge. Nach dem Gedanken George Batailles liegt in der Basis dieser rationalen Ordnung die „menschliche“ Transzendenz, die die Opferung der nicht reduzierbaren Natur „des Tieres“ verlangt.

Über den Wahnsinn reflektierend behauptet Foucault, dass das Tiersein sein inneres Wesen ist und seine innere Wahrheit die Grenzen des „Menschlichen“ entblößt. Die Tierhaftigkeit spielt in der Philosophie die Rolle des undenkbaren und nicht denkenden gespiegelten Doppelgängers der Subjektivität. Nach einem Gedankengangs Lacans  eignet sich der Mensch, wenn er in den Spiegel blickt seine eigene Gestalt von innen her an. Doch gerade das Tier existiert auf der anderen Seite des Spiegels, in dem das menschliche Wesen sich selbst erkennen soll! Als Jaques Derrida Lacan erneut las, erklärte er, dass das hauptsächliche Rätsel nicht im Menschen, der sich selbst anschaut, liegt, sondern im Tier, das ihn unablässig von innen anschaut.

Dieses Spiel des Inneren und des Äußeren, der Implikation und Explikation kann, wenn wir der Bestimmung Giorgio Agambens folgen, als „anthropologische Maschine“ bezeichnet werden, die die Grenze zwischen menschlichem „Ich“ und dem Tierischen „anderen“ festlegt. Der Mensch erkennt sich im Tier wie im Spiegel und beginnt auf diese Weise sich vom Tier zu unterscheiden. Doch dieser optische Mechanismus produziert eine doppelte Handlung. Das Erkennen wird von einem Verkennen begleitet. Der Mensch erkennt sich solange im Tier wieder, solange die Welt nicht in zwei Welten gespalten ist, der Spiegel nicht zwischen ihm und seinem Anderen eine Lücke oder einen Riss erzeugt.

Für Bataille stellt das Ereignis, das in ferner Vergangenheit geschah, einen solchen Riss dar, als sich der Mensch durch eine willkürliche Entscheidung seine „tierische“ Natur verbot. Die Metapher des Risses dient Bataille als Grenze des Verbotes, aber auch als offene Wunde, als schmerzhafte Trennung von der Tierhaftigkeit.

Die Idee des „ersten Schrittes“ des Menschen, sich vom Tier zu trennen, ist eine der widersprüchlichsten in der Anthropologie Batailles, ist es doch in der Tat noch kein Mensch, sondern ein Tier, das sich selbst verleugnet, das sich plötzlich aus irgendeinem Grunde aufrichtet, sich buchstäblich auf die Beine stellt und sagt: „Ich bin kein Tier mehr.“ 

Eine ähnliche Situation ist zum Beispiel für Heidegger absolut unvorstellbar, in dessen Denken Menschen, ungeachtet ihrer „körperlichen Verwandtschaft“ mit ihnen, per definitione und auch in der Art ihres Seins keine Tiere sind. Heideggers Metapher des Risses  ist der Abgrund, der das menschliche Wesen des „Daseins“ von dem lebenden Wesen trennt:

 

 „Vermutlich ist für uns von allem Seienden, das ist, das Lebe-Wesen am schwersten zu denken, weil es uns in gewisser Weise am nächsten verwandt und andererseits doch zugleich durch einen Abgrund von unserem ek-sistenten Wesen geschieden ist. Dagegen möchte es scheinen, als sei das Wesen des Göttlichen uns näher als das Befremdende der Lebe-Wesen, näher nämlich in einer Wesensferne, die als Ferne unserem eksistenten Wesen gleichwohl vertrauter ist als die kaum auszudenkende abgründige leibliche Verwandtschaft mit dem Tier.“[1]

 

Gerade darum schenken Agamben und andere zeitgenössische Theoretiker der Kritik Heideggers so viel Aufmerksamkeit: zieht doch gerade Heidegger am radikalsten einen fetten Strich zwischen „uns“ und „ihnen“. Im Denken Agambens ist das nicht nur eine metaphysische, sondern auch eine politische Prozedur, dass sich von Zeit zu Zeit auch einige Menschen abseits der anthropologischen Maschine jenseits der menschlichen Gesellschaft und der menschlichen Geschichte (die „halbmenschlichen“ Geschöpfe werden ins Konzentrationslager befördert…) befinden.

Wichtig ist es zu bemerken, dass für die universelle Geschichte Tiere nicht existieren, da sie traditionell der außerhistorischen Natur angehören. Nichtsdestoweniger haben die Tiere eine Geschichte. Die Logik dieser Geschichte jedoch rechtfertigt nicht den Optimismus des humanistischen Diskurses der progressiven Befreiung und Emanzipation der Tiere, die letztendlich ihre Rechte erhalten (in erster Linie in den Staaten der „ersten Welt“). In der Tat haben wir es gerade eben heute mit der Agambenianschen Figur des „nackten Lebens“ zu tun, die zum Beispiel nicht geopfert, sondern dafür ohne jede Zeremonie vernichtet werden kann. Jeder Rechte entledigt liegt diese Figur jenseits der offiziellen Ideologie der Tier- und Menschenrechte.

Die menschliche Gesellschaft, die ernsthaft über die Rechte der Tiere besorgt ist, existiert auf Kosten bestimmter Mechanismen der Berechnung und Identifikationen und hält sich auf Kosten der Ausschließung alles dessen, was nicht berechnet und identifiziert werden kann, aufrecht, und darum geht es in meinem Beitrag. Meine These ist sehr einfach und besteht darin, dass ein solcher Ausschluss unmöglich ist, in dem Maße, in dem wir uns nicht der sogenannten Animalität, Bestialität, die eine Art des  heterogenen Überschusses der Menschlichkeit und Subjektivität darstellt, entziehen können. Der Überschuss  der Animalität, der nicht berechnet und kapitalisiert werden kann, bildet direkt im Herzen unserer Kultur das unmenschliche «Äußere“, den unmittelbaren Abgrund, in dem sich die unerwartete Freiheit als unmögliche Freiheit des Wahnsinns der klassischen Epoche verbirgt. Die Tiere haben ihre besondere Beziehung zu den Zahlen und davon werde ich gerade eben sprechen auf eine etwas metaphorische Art. 

Mein englischer Kollege John Mullarkey, der Tiere in der zeitgenössischen Philosophie untersucht, richtete seine Aufmerksamkeit auf eine Art Opposition zwischen Tieren und Zahlen:

 

Alaine Badiou beschreibt die Philosophie Deleuze als Philosophie des „Tieres“ im Gegensatz zu seiner eigenen Philosophie der „Zahlen“. Für Badiou war der ewige „Stein des Anstoßes der Metaphysik“ die Wahl zwischen Tier und Zahl, dem organischen und dem mathematischen. Im Unterschied zu Badiou „zögert“ Deleuze laut Badiou „nicht“, sich zu Gunsten des Tieres zu entscheiden.

 

Meinerseits möchte ich, anstelle hier eine Opposition zwischen und Zahlen zu sehen, dem russischen revolutionären futuristischen Dichter Velimir Chlebnikov, der eine gewisse Tierhaftigkeit der Zahlen entdeckte, folgend, diese Grenze zwischen Tieren und Zahlen auflösen:

 

Zahlen

 

Ich sehe euch, oh Zahlen, gründlich an,

Und ihr erscheint mir als Tiere gekleidet, in ihren Fellen,

die sich mit der Hand auf herausgerissene Eichen stützen.

Ihr schenkt die Einheit zwischen den schlangenförmigen Bewegungen

Des Rückens des Weltalls und dem Tanz des Waagebalkens,

Ihr erlaubt die Jahrhunderte zu verstehen, als schnelles Gelächter der Zähne.

Meine Pupillen sind jetzt dingförmig aufgerissen

Um zu erfahren, dass das Ich, wenn es geteilt wird, Eins ist.

 

Chlebnikov, dieser fast Verrückte, stromerte durch Russland und hatte immer ein Kissen (Polster) dabei, das mit kleinen Papierfetzen, auf die er mit winzigen Buchstaben seine Gedichte schrieb, vollgestopft war, und war derjenige, der lange vor Mao und Badiou begriff, dass „Eins durch zwei geteilt wird“, dass Eins das Teilbare ist und auf irgendeine tierische Weise geteilt wird. Doch bevor ich über die Animalität oder Bestialität der Zahlen spreche, würde ich gerne die Frage nach der Zahl der Tiere aufwerfen, wobei ich immer die Formel „Eins teilt sich durch zwei“, welche unter anderem den Riss (??????) zwischen Mensch und Tier als konstitutiv bezeichnen kann, die der Spiegel oder das ist, was mein Kollege aus Ljubljana Gregor Moder „Lacans Lücke“ nennt.

Entsprechend der bizarren Kosmogonie Lacans, „war am Anfang die Explosion (??????)“, und diese Explosion (??????) setzt keinerlei „ursprünglichere“ Einheit voraus, dass sie uns nicht vom „verlorenen Paradies“, von der „glücklichen Kindheit“ oder den „guten alten Zeiten“ erzählen würde. Die menschliche Subjektivität ist das Resultat der Appropriation dessen, was jenseits des Risses ist, das sogenannte Äußere, während das Tier seine Subjektivität nicht aus der äußeren Gestalt erbauen kann.  Was sieht im Spiegel die Taube Lacans? Eine andere Taube, die als potentieller Partner erscheint. Und nur der Mensch errät plötzlich, dass „das ich bin“. Stellen sie sich eine Taube vor, die verzweifelt versucht sich ihrem „vorgestellten“ Partner zu nähern und immer wieder gegen das Glas stößt. ? ?????? ??????? ????? ????????????, ??? «??? ?». Für Tiere gibt es keine Einsen. Für sie gibt es immer schon zwei. Als Minimum zwei. Menschen vereinigen sich, Tiere vermehren sich. Wie Mladen Dolar betont, sind für die Psychoanalyse teilweise zwei Aspekte der Teilung der Eins in zwei wichtig – die sexuelle Differenz und das Unbewusste.

Ein solcher Gegenstand wie die Bestialität oder Tierhaftigkeit verlangt Treue zu einer Art Unordnung der Gedanken und ich entschuldige mich schon im Vorhinein für diese Unordnung, deren einzige Rechtfertigung das Faktum sein kann, dass diese Unordnung die Rückseite irgendeiner Ordnung ist, so wie die Lüge die andere Seite der Wahrheit ist, und die Erfindung die Rückseite der Realität ist oder eher der sogenannten „Wissenschaft“. Die formale Ordnung dieses Vortrages ist mit der „Teilung in zwei“ verbunden. Vor allem teilt sich mein Auftritt in zwei Teile, beide sind auf mehr als bekannten biblischen Episoden gegründet. Der erste Teil enthält sehr bedingt den sogenannten „Einschluss“, der zweite den Ausschluss der Animalität, doch Sie werden sehen, wie schnell sich die eine Strategie in die andere verkehrt. In beiden Fällen wird es um die Metapher der Meerestiefe oder des „Abgrundes“ als letzte Zuflucht der unzählbaren Tierhaftigkeit gehen.

 

I

 

Die erste Episode ist die Geschichte von der „Arche Noah“ (Genesis, Kapitel 6-9) Ihr kennt alle diese Legende: zu einem bestimmten Zeitpunkt bedauerte Gott das, was er geschaffen hatte, da die Menschen in der Sünde versunken waren. Er fällte die Entscheidung, alles zu vernichten, alles Fleisch vom Antlitz der Erde zu wischen, um der Menschheit eine neue Chance zu geben. Und obwohl die Tiere keine Sünde begangen hatten, sollten sie auch dieses Schicksal teilen, und einige von ihnen sollten in die Arche zusammen mit Noah und seiner Familie aufgenommen werden. Gott befahl Noah, Tiere jeder Art mit sich zu nehmen oder genauer fast alle, und so war seine erste Anordnung:

 

  1. Mose 6, 19 Und du sollst in den Kasten tun allerlei Tiere von allem Fleisch, je ein Paar, Männlein und Weiblein, dass sie lebendig bleiben bei dir.
  1. Mose 6, 20  Von den Vögeln nach ihrer Art, von dem Vieh nach seiner Art und von allerlei Gewürm auf Erden nach seiner Art: von den allen soll je ein Paar zu dir hineingehen, dass sie leben bleiben.

 

Auf dem Bild von Jacopo Bassano (??????? ???????) können Sie die Tiere, die in der Schlange auf die Einschiffung warten, sehen. Hier haben wir es gewiss damit zu tun, worauf Mladen Dolar  aus dem Blickwinkel der psychoanalytischen Teilung und gerade mit der sexuellen Differenz hingewiesen hat. Die Tiere wurden in Paaren aufgenommen, damit sie sich reproduzieren konnten, entsprechend der menschlichen Ordnung, sogar wenn offensichtlich nicht alle von ihnen monogam waren. Und da ist die erste Frage: und wie stand es mit den Hermaphroditen und all denen, die sich ohne einen sexuellen Akt vermehren? Offensichtlich wurden sie nicht an Bord genommen.

Weiter im 7. Kapitel haben wir es schon mit einer anderen Teilung der Tiere in reine und unreine zu tun, und wir entdecken, dass nicht alle Tierarten nur in einem Paar vertreten waren. Die Zählung der Tiere erweist sich als etwas komplizierter:

 

2  Aus allerlei reinem Vieh nimm zu dir je sieben und sieben, das Männlein und sein Weiblein; von dem unreinen Vieh aber je ein Paar, das Männlein und sein Weiblein.

3  Deßgleichen von den Vögeln unter dem Himmel je sieben und sieben, das Männlein und sein Weiblein, auf dass Same lebendig bleibe auf dem ganzen Erdboden.

 

Es drängt sich die Frage auf, warum wurden die reinen Tiere zu sieben und nicht in Paaren aufgenommen? Einige Kommentatoren antworten, dass Sieben eine sakrale Zahl ist, die Zahl der Vollendung (z.B. die sieben Tage der Schöpfung, die sieben Tage der Woche usw.) Andere behaupten, dass die reinen Tiere „besser“ als die unreinen seien und von ihnen darum mehr vertreten sein sollen. Jedoch diese Annahme hält keiner Kritik stand, da die „Reinheit“ der Tiere nicht mit ihren positiven Eigenschaften (ein „gutes“ und „gutmütiges“ Lamm ist „besser“ als ein „schlechter“ und „böser“ Wolf) verbunden ist, sondern mit ihren sozialen Funktionen: ich erinnere daran, dass die reinen Tiere sich hauptsächlich dadurch von den unreinen unterscheiden, dass man sie erstens opfern kann und zweitens als Speise verwenden kann.

Ich kann nicht von der Tatsache absehen, dass sieben nicht durch zwei teilbar ist, und dass heißt, dass von jeder Gattung der reinen Tiere, die an Bord genommen wurden, eines paarlos blieb. 

Aber warum wurden in diesem Falle dennoch die reinen Tiere zu je sieben und nicht zu je drei? Vielleicht eine praktischere Erklärung: mutmaßlich, bedeutet die Episode der Arche Noah den Punkt des Übergangs von dem alten Vegetarismus zum Fleischverzehr. Wenn wir einigen Kommentatoren glauben, war das Klima auf dem ganzen Planeten vor der Sintflut ziemlich günstig, und konnte alle Menschen und Tiere mit pflanzlicher Nahrung versorgen. Jedoch das Wasser der Sintflut verwüstete weite Landstriche der Erde, und Gott sah dies beizeiten voraus, sodass er von da ab den Menschen erlaubte Fleisch zu essen, indem er ihnen Tiere zur Verfügung stellte. Auf diese Weise waren noch zwei Paare jeder Art wahrscheinlich genommen worden, so zu sagen als Lebensmittelvorrat. Was passierte also weiterhin:

 

7  Und er ging in den Kasten mit seinen Söhnen, seinem Weibe und seiner Söhne Weibern vor dem Gewässer der Sintflut.

8  Von dem reinen Vieh und von dem unreinen, von den Vögeln und von allem Gewürm auf Erden

9  gingen sie zu ihm in den Kasten paarweise, je ein Männlein und Weiblein, wie Gott ihm geboten hatte.

10  Und da die sieben Tage vergangen waren, da kam das Gewässer der Sintflut auf Erden.

11  In dem sechshundertsten Jahr des Alters Noahs, am siebzehnten Tage des zweiten Monats, das ist der Tag, da aufbrachen Brunnen der großen Tiefe, und taten sich auf die Fenster des Himmels,

12  und kam ein Regen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte.

 

In diesem Fragment ist das Bild der „großen Tiefe“, die die Arche umgibt, wichtig. Grade aus dieser Untiefe, die draußen ist, retten sich Menschen und Tiere ins Innere der Arche. Die, die sie nicht aufgenommen haben, gehen im Wasser zugrunde und verschwinden in der Untiefe. Nur eine bestimmte Anzahl kann an Bord genommen werden. Gott stellt die Tiere zur menschlichen Verfügung – von jetzt ab müssen sie gezählt und in Betracht gezogen werden. Doch in dem Maße, in welchem wir zählen können, zum Beispiel alle Menschen und sogar klären können, wieviel Menschen insgesamt unseren Planeten besiedeln, können wir nicht alle Tiere zählen, eingeschlossen der kleinsten, denn die sogenannte Tierwelt ist eine feststehende Größe. (Im Zusammenhang mit der Bibel können wir an das Buch „Numeri“ 4. Buch Mose erinnern, das praktisch vollständig der Bevölkerungszählung gewidmet ist und die Resultate der Zählung des jüdischen Volkes vorstellt, und an das Buch „Leviticus“ 3. Buch Mose, wo eine ausführliche Klassifikation der reinen und unreinen Tiere durchgeführt wird.) Wir können sie nicht zählen, dafür können wir sie klassifizieren.

Stellen Sie sich alle Tiere aus allen Erdteilen vor, von Norden, von Osten, von Süden, von Westen - die in das Land Noahs in der Hoffnung, in seiner Arche unterzukommen, gekommen sind (oder hat nur ein Paar oder sieben Stück ihre einheimischen Plätze verlassen, während alle übrigen dort blieben und weiter existierten, als ob nichts geschehen sei?). Stellen Sie sich alle Katzen vor zusammen mit allen Flöhen, die in ihrem Fell leben, und mit allen Helminthen (Würmern) in ihren Innereien, und nur ein Paar geht, je nachdem, wo es in der Schlange steht, an Bord. Welches Paar von den vielen? Für Tiere gibt es nicht das Prinzip der Auswahl, da sie alle ohne Sünde sind,  gibt es unter ihnen weder Sünder noch die, die ohne Sünde sind, wie Noah. Das heißt Gottes Gerechtigkeit – im Endergebnis kann niemand diese singuläre Auswahl erklären. So funktioniert also die Ausnahme: wie vielleicht Schmitt gesagt hätte, die Entscheidung des Souveräns bestimmt, wer zu den „Freunden“ gehören wird. Nur ein Paar oder sieben Stück kommen an Bord.

Der schwedische Film „Europäische Visionen“ ist ein wunderbares Beispiel für die Zählung der Tiere, die als Ware genommen werden, aber so auf ihre Art als „Bürger“, die auf einem bestimmten  Territorium, das für Fremde, die von außen kommen, geschlossen ist, leben können. Ich kann nicht umhin, ein „menschliches“ Beispiel anzuführen, wenn Flüchtlinge aus Nordafrika, wenn sie versuchen auf der Suche nach einem besseren Schicksal durchs Meer schwimmend auf die Iberische Halbinsel zu gelangen, ihr Leben riskieren und manchmal, schon tot, mit den Wellen ans Ufer gespült werden. So aber wie die Europäische Union nicht alle Migranten aufnehmen kann, kann Noahs Arche nicht alle Tiere und Menschen unterbringen – irgendjemand muss draußen bleiben, an der Grenze vernichtet werden, im kalten Wasser der Sintflut, im offenen Abgrund verschwinden. Die, die nicht gezählt wurden, wer kein gelbes Pickerl als seine individuelle Identitätsnummer (ID) erhält, die erscheinen mit „allen übrigen“, außer einem Paar von jeder Art, und von ihnen gibt es eine unzählbare Menge.

 

II

 

Die zweite Episode ist etwas, sagen wir so, „näherliegend“ – die neutestamentliche Legende von der Austreibung der bösen Geister. Ich zitiere nach dem Lukasevangelium, Kapitel 8:

 

26  Und sie schifften fort in die Gegend der Gadarener, welche ist Galiläa gegenüber.

27  Und als er austrat auf das Land, begegnete ihm ein Mann aus der Stadt, der hatte Teufel  von langer Zeit her und tat keine Kleidung an und blieb in keinem Hause, sondern in den Gräbern.

28  Da er aber Jesum sah, schrie er und fiel vor ihm nieder und rief laut und sprach: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesu, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich bitte dich, du wollest mich nicht quälen.

29  Denn er gebot dem unsauberen Geist, dass er von dem Menschen ausführe. Denn er hatte ihn lange Zeit geplagt, und ward mit Ketten gebunden und mit Fesseln gefangen, und zerriss die Bande und ward getrieben von dem Teufel in die Wüsten.

30 Und Jesus  fragte ihn und sprach: Wie heißest du? Er sprach: Legion; denn es waren viel Teufel in ihn gefahren.

31  Und sie baten ihn, dass er sie nicht hieße in die Tiefe fahren.

32  Es war aber daselbst eine große Herde Säue auf der Weide auf dem Berge. Und sie baten ihn, dass er ihnen erlaubte, in sie zu fahren. Und er erlaubte es ihnen.

33  Da fuhren die Teufel aus dem Menschen und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich von dem Abhange in den See und ersoff.

 

Ich beginne damit, dass Jesus nicht zufällig die Dämonen in die Schweineherde geschickt hat. Wie bekannt sind Schweine nach der biblischen Tradition unreine Tiere. In diesem Zusammenhang damit ist es wichtig, die Aufmerksamkeit noch auf eine Bedeutung des Wortes „unrein“ zu richten – „Teufel“, „böser Geist“.[2] Die unreinen, bösen Geister, deren Zahl ihrem Namen – Legion - entspricht, finden im Endergebnis ihre Zuflucht in den Körpern der Tiere. Was in die Augen sticht, ist die Nähe zwischen Tieren und Teufeln, zwischen dem Tier und dem „Tier aus dem Abgrund“ (dem anderen Namen des Antichristen).

Ich möchte ihre Aufmerksamkeit auf die Beunruhigung der Teufel richten, angesichts der Tatsache, dass Jesus sie in die „Tiefe“ befördern kann. Im gegebenen Fall wird unter Tiefe ein spezieller Ort für die ewige Strafe böser Geister verstanden wird. Sie bieten Jesus, dass er sie nicht hieße in die Tiefe fahren, sondern stattdessen in die Herde schickte, und die Herde stürzt sich in den See (auch eine „Tiefe“, jedoch nicht eine so „schreckliche“).

Eins teilt sich hier buchstäblich in eins (die Einheit des Menschen) und den pluralen Anderen (die Legion, von der er besessen ist). Wir verstehen hervorragend, dass der Mensch, von dem jetzt die Rede ist, darunter leidet, was wir heute Geisteskrankheit oder Wahnsinn nennen, dessen Verbindung mit der Tierhaftigkeit von Foucault wunderbar analysiert worden ist. Im gegebenen Fall haben wir es eher mit einer Strategie des Ausschließens, der Austreibung zu tun. Die Schweineherde, die sich in den See stürzt, das ist der externalisierte, veräußerlichte Wahnsinn, eine Verrücktheit in ihrer sozusagen objektiven Form.

Ich kann nicht darauf verzichten, diese Schweineherde mit dem berühmten „Narrenschiff“ zu vergleichen. Ich erinnere, dass Foucault zu Anfang seiner „Geschichte des Wahnsinns“ von der mittelalterlichen Tradition erzählt, alle Geisteskranken zu sammeln, in ein Boot zu setzen und sie fort auf die unendliche Reise zu schicken, aufs offene Meer, das selbst als Symbol des Wahnsinns erscheint. Und unter anderem kann ich nicht dieses Schiff nicht der Arche Noah entgegensetzen:  im letzten Falle ist das Schiff dazu bestimmt, alle die einzuschließen, die gerettet werden, während im ersten Fall es dazu dient, „alle übrigen“ auszuschließen und sie los zu werden.

Dies führt uns zu einem anderen Aspekt der Eins, die durch zwei teilbar ist – das Unbewusste, das im Fell in dieser Zahl und solcher dämonischen Raubtiere, wie Wölfe, erscheinen kann. Ich meine die berühmte Geschichte vom Werwolf, die als Stein des Anstoßes in der Psychoanalyse Freuds erscheint. Obwohl wahrscheinlich allen diese Geschichte sehr gut bekannt ist, zitiere ich die Nacherzählung des Traumes von Sergej Pankeev, eines russischen Patienten Freuds, der sozusagen diesen Traum gehabt hat als er ein Kind war:

 

Mir träumte, dass es Nacht ist und ich in meinem Bett liege (mein Bett stand so, dass die Beine zum Fenster zeigten; vor dem Fenster befand sich eine Reihe alter Nussbäume. Ich weiß, dass es Winter war, als ich diesen Traum hatte, und dass es Nacht war). Plötzlich öffnete sich das Fenster von selbst und ich sah mit großem Schrecken, dass auf dem großen Nussbaum vor dem Fenster einige weiße Wölfe sitzen. Ihrer waren sechs oder sieben Stück. Die Wölfe waren vollkommen weiß und eher Füchsen oder Schäferhunden gleich, da sie große Schwänze hatten, wie Füchse, und ihre Ohren standen ab, wie bei Hunden, wenn sie sie spitzen. Mit großer Angst schrie ich, offensichtlich fürchtete ich, von den Wölfen gefressen zu werden,  und erwachte. Die Amme eilte an mein Bett, um zu sehen, was mit mir geschehen ist. Es verging ziemlich viel Zeit, bis ich mich überzeugte, dass das nur ein Traum war – so natürlich und klar zeichnete sich mir das Bild, wie sich das Fenster öffnet und die Bäume auf dem Baum sitzen. Am Ende beruhigte ich mich und fühlte mich so, als ob ich einer Gefahr entkommen wäre, und schlief wieder ein.

Die einzige Handlung im Traum war, dass sich das Fenster öffnete, denn die Wölfe saßen ruhig ohne jede Bewegung auf den Zweigen des Baumes, rechts und links vom Stamm, und schauten mich an. Als ob sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich konzentrierten. Ich glaube, das war mein erster Alptraum.

 

Für Freud war es eine wirkliche Entdeckung, als sein Patient plötzlich begriff, dass das nicht das Fenster seines Schlafzimmers war, sondern dass seine Augen sich unerwartet irgendeinem unbekannten Entsetzen öffneten. Dank der Idee der Inversion entstand der Gedanke, dass der durchdringende Blick der Wölfe der Blick des Patienten, des kleinen Burschen,  selbst war. Nach dem Gedankengang Freuds ist es gerade er, der Bursche, der mit Wolfsaugen auf etwas erschreckendes an dieser Stelle schaut, wo er selbst sein soll: «Der aufmerksame Blick, den er im Traum den Wölfen zuschreibt, soll in Wirklichkeit ihm selbst zugerechnet werden».

Freud folgend behauptet Jaques Lacan, dass der „verzauberte Blick das schlafende Subjekt selbst ist“:

 

In dieser Erscheinung steht nach der Meinung Freuds dem Subjekt sein eigener erstarrter Blick entgegen. Im Blick der Wölfe, die dem Erzähler den Traum eingeben und nach seinen Worten zu urteilen, eine solche Angst einflößen, sieht Freud das Äquivalent des kindlichen Blickes, der bei der Ansicht der Szene erstarrt, die sich in die Phantasie des Kindes fest eingegraben hat… vor uns steht eine Art Grenzerlebnis, eine angstvolle Vorausnahme des letzten, endgültigen Realen

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Author

Oksana Timofejeva

 

Translator

Stephan-Immanuel Teichgräber (kurz)

Literaturwissenschaftler und Übersetz

 
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