Die Toten von Kali

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Publisher: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publication Date: 06.08.2021
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In stock: YES
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Country: Austria
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Die Toten von Kali

Hamlet lief am Montag zum ersten Mal in dieser Saison. Nächste Woche haben wir damit ein Gastspiel in Rom. Danach in Athen und Sankt Petersburg, im Herbst in Klausenburg und vielleicht auch im Bulandra-Theater in Bukarest (die Entscheidung liegt beim rumänischen Kulturministerium). Wenn ich mich nicht verzählt habe, lief zu Hause die zwanzigste Vorstellung. Die einen lieben es, die anderen ziehen es durch den Dreck, doch der springende Punkt ist: Wir sind ständig auf Tournee damit. Ich schaffe es nicht, jeden Abend in gleichem Maße zu dominieren, doch ich kann ruhigen Gewissens sagen, ich bin gut in dem Stück. Letztes Jahr brachte es mir die Anerkennung, nach der sich jeder Mensch in seinen Zwanzigern sehnt. Auch danach habe ich beim Dreh von Die Toten von Káli nicht nachgelassen, im Gegenteil: Ich hoffe, ich habe noch ein wenig an Wert gewonnen.

            Mir ist wichtig, vor jedem Auftritt anderthalb Stunden für mich allein zu haben. In dieser Zeit sporne ich mich an und versetze mich in die richtige Stimmung. (Es ergibt sich bloß in zwei von fünf Fällen.) Zu spät zu kommen ist die ultimative Ursünde. Ich muss auch dann um achtzehn Uhr im Theater sein, wenn ich nicht Hamlet spiele und erst im zweiten Akt vorkomme. Es ist mein wiederkehrender Albtraum, dass die Vorstellung längst begonnen hat, während ich irgendwo in der Stadt in einen Unfall verwickelt werde. Ansonsten mache ich mir für gewöhnlich keinen Kopf, meinen Text vergesse ich auch nicht, und den Souffleur habe ich noch nie gebraucht. Zusammen mit meinem Kostüm hülle ich mich auch in meine Textzeilen, worauf viele der langsameren Lerner neidisch sind, etwa Gábor Csuka, der immer büffeln muss. Sein Text hängt überall an den Kulissen, den Requisiten, den Gesichtern meiner Kollegen.

            Sulyoks Idee schien anfangs haarsträubend. Ich erinnere mich daran, massive Zweifel gehabt zu haben, als ich bei der Leseprobe das Bühnenbildmodell mit der Matthias-Corvinus-Statue und der Klausenburger Michaelskirche erblickte. Unser Hamlet, sagte der Regisseur, spielt zwischen 1918 und 1920 in Klausenburg. Der ältere Hamlet ist ein Mann des alten, noblen Ungarns des Heiligen Stephans, ein Wesselényi, Bánffy oder Bethlen. Claudius, den Gróf spielt, repräsentiert den das ungarische Volk zerfressenden Zwiespalt. Laut Regie ist er ein mannhafter, tatkräftiger Mensch mit Führungsqualitäten, der womöglich bloß aus Eigeninteresse die Königin heiratet und insgeheim den Kommunisten den Weg bereitet (er kokettiert mit der Asternrevolution, und es scheint, als ob er auch der das vom Königreich gestohlene Gold verwahrende Béla Kun sei). Hamlet ist ein konservativer, gesunder junger Mann; er glaubt an die Einheit der Familie, an die Macht von Versprechen, an Freundschaft, Liebe und Gott. Bis jetzt kannte er weder den Schmerz von persönlichem noch kollektivem Verlust; er kannte keine Bitterkeit, aber genauso wenig die Verantwortung, die mit der Eigenständigkeit einhergeht. Ganz zu schweigen von der traurigen Tatsache, dass seine Nation im Laufe der Geschichte stets anderen Mächten ausgeliefert war. Ihn hatte immer nur eine leichte Vorahnung all dieser Dinge berührt. Ein gebildeter, europäisch denkender, weltläufiger junger Mann, der als Erster erkennt, dass die Monarchie zum Scheitern verurteilt ist und das ungarische Volk Siebenbürgen einbüßen wird. Mit seinem glühenden, ruhelosen Geist stellt er sich den niederträchtigen, verlogenen Machenschaften seines eigenen gesellschaftlichen und familiären Umfelds entgegen. Eine semifeudale Provinz und Inzest im karnevalsgleichen Chaos.

            Klausenburg gehört bei dieser Darbietung zu den repräsentativen Schauplätzen des Verlustes, den das ungarische Volk erleiden musste. So ähnlich, wie wenn die in Flammen stehende Stadt Königsberg symbolisch für ganz Deutschland stünde, sowie Lemberg/Lwów für die Polen. Mir gefällt besonders die dreiste Idee, dass Claudius die Stadt nach seinem eigenen Namen „Claudiopolis“ tauft.

            Die Totengräber tauchen im Friedhof von Házsongárd auf, schleichen auf halbem Wege zwischen den Gräbern von Apáczai Csere und Dsida herum.

            Und Fortinbras ist kein Norweger, sondern Rumäne, bei uns heißt er Fortin Brascu, und er lässt seine Soldaten das ungarische Wappen von der Fassade des barocken Palastes im Bühnenbild abschlagen. Er legt Wert darauf, dies nicht mit eigener Hand zu tun; allerdings ist er es selbst, der mit roter Tusche die neue Grenzlinie auf der im Hintergrund aufgehängten Landkarte einzeichnet. Auf Ungarisch sagt er kein Wort, und er wird von Zalán, einem neulich aus Neumarkt am Mieresch zugezogenen Jungen, gespielt. Es ist eine kostümierte Vorführung, doch die Verkleidungen sind teilweise nur angedeutet;  das heißt, bei uns gibt es mit Tressen besetzte Nationaltrachten, Kranichfedern und prachtvolle Abendkleider im Stil der Jahrhundertwende bloß unter Anführungszeichen, trotz der Jahreszahl sind wir nicht altmodisch. Gesteifte Kragen und Zylinder, das ist das Maximum.

            Wie Sulyok gerne mit einer gewissen Häme äußert, ist dieses Stück für das mit Bändern und Pfriemengras geschmückte, übertriebene Nationalgefühl der Ungarn ein Schlag ins Gesicht, weil es ihnen den Wind aus den Segeln nimmt: Man kann jetzt nicht mehr behaupten, das elitäre, experimentelle Künstlertheater würde sich nicht mit nationalen Schicksalsschlägen befassen. BTW, Hardliner-Liberalismus halte ich auch nicht aus. Wir sollten niemanden als chauvinistischen Drecksack abstempeln, nur weil er mit blutendem Herzen an den abgespaltenen Geburtsort seines Urgroßvaters in Transkarpatien denkt. Noch etwas, was mich zur Weißglut treibt: „Ein Tschango-Meister hat es geschnitzt, das ist also unser Fetischobjekt.“ Genauso: „Es geht um den Holocaust, daher muss es ein Meisterwerk sein.“ Sie sprechen es nicht aus – nicht in dieser Form –, aber ihr Verhalten lässt auf genau diese Denkweise schließen. Sie feiern etwas nicht, weil es gut ist, sondern weil es für eine Sache steht. Wahnsinn. Doch ich bin es nicht, der mit Rammböcken gegen solche oder ähnliche faulige Schematismen kämpft. Ich bin Schauspieler, Punkt.

            Ich spiele den Hamlet von Trianon.

            Im Stück gibt es auch ein Wählscheibentelefon, Revolver, Grammophonplatten, ein Monokel für Polonius (allerdings keinen Gehstock), weinendes Feiern, die ungarische Hymne und Operettenelemente zuhauf.

            Es schien also waghalsig, doch wir merkten schon in der ersten Probenwoche, dass es funktioniert.

            „Ich möchte festhalten,“ begann Sulyok, „unsere stärkste Empfindung heutzutage in Ungarn ist die Unfähigkeit zusammenzuhalten. Die tragische Spaltung, in deren Refraktion Muhi, Mohács, Hellburg und Trianon gleichermaßen als göttliche Strafe erscheinen. Zugegeben, als etwas disproportionierte Strafe. Und darauf reagiert jeder, auch jene, deren Hauptziel darin liegt, die aktuell gegebenen Umstände möglichst lange aufrechtzuerhalten.“

            Da unsere Figur des Hamlet entfernt den Endre Ady von Mahnung an die Hüter und Mensch in der Unmenschlichkeit heraufbeschwört, stand einen Augenblick lang zur Debatte, ob ich statt des tausendfach wiedergekauten großen Königssohn-Monologs die Mahnung… parlando rezitieren sollte, wobei meine Stimme mithilfe der Technik polyfon vervielfacht würde. Sulyok entschied sich beinahe dagegen, doch ein paar Gedichtzeilen blieben schließlich drinnen, vermischt mit Ausschnitten des Monologs. Wir brauchen nicht noch mehr aufdringliche Anspielungen als unbedingt notwendig.

            „Obwohl du, Alex, mit deinem blonden Haar und hundertfünfundachtzig Zentimetern sowieso eher Kosztolányi ähnelst“, sagte Sulyok bei der Leseprobe zu mir. „Und sein Subotica ist auch abgespalten.“

            „Dennoch starb Géza Csáth im Jahre 1919. Genau wie Ady“, betonte der Direktor, der bei den ersten Proben anwesend war.

            „Und das an der jugoslawischen Grenze! Er könnte auch ein Sinnbild sein.“

„Ist er aber nicht. Das ist die Grenze bei diesem Stück, das sind alle Grenzen in einer.“

„Dann sollte Jani Tabáni Hamlet spielen“, diskutierte Brúnó mit ihm, und seine Augen zuckten zu mir herüber. „Mit seiner rabenschwarzen Stirnlocke, nicht wahr? Ihm nehme ich Ady eher ab als Alex.“

„Für wen soll ich mich denn nur entscheiden…“, summte Sulyok grinsend.

Tabáni war ein kleiner, unwahrscheinlich magerer Junge mit hoher Stirn und einem Grübchen am Kinn. Ein geborenes Talent. Er würde einen interessanten Hamlet abgeben.

„Hast du dich entschieden?“, fragte ihn Gróf mit seinem etruskischen Lächeln.

„Natürlich. Schon längst. Tabáni spielt Horatio.“

„Und kannst du mir erklären, warum wir das Stück ausgerechnet jetzt und in dieser Inszenierung spielen? Vor dem hundertsten Jahrestag von Trianon?“, richtete Gróf seine Frage an den Regisseur.

„Weil ich Jahrestage verabscheue. Sie sind so nichtssagend. Ich hasse es, aus Zwang feiern zu müssen. Außerdem ist ein Datum als Anlass für eine Premiere nicht triftig genug, nicht wahr? Also… Ich habe beschlossen, Trianon in meinem Hamlet zu behandeln, weil ich hier auf einem leeren Feld arbeiten kann.“

“Im Sinne des Theaters?”, fragte Gróf und verzog den Mund.

„In jeglichem Sinne. Das, worüber ich spreche, betrifft jede ungarische Familie. Es gibt kein Monopol auf Trianon. Dieses Thema ist nicht für Extremisten reserviert.“

Die Vorstellung wurde vom Kritiker der Webseite revizor.hu als „monumental“ beschrieben, von szinhaz.net niedergemäht, vom politischen Nachrichtenmagazin 168 Óra vernichtet und vom satirischen Wochenblatt Magyar Narancs in den Himmel gelobt. Das Stück sei brutal. Wütend. Intensiv. Was alles stimmt. Wenn wir gut sind, lässt das Stück das Publikum keine Sekunde zur Ruhe kommen. Aber es geht nicht nur um den Wirbel. Ich zitiere: „Intimität fehlt dem Stück auch nicht. Beim mit Ady vermischten großen Monolog schwelt die Luft, beim Auftritt Fortinbras‘ erstarrt sie. Wir durften jene gute, harsche Art von Theater sehen, die zwar provoziert, aber sich nicht vor das Werk selbst drängt. Es gab keine brennenden Reifen auf der Bühne, keine Bündelkleidung und keine Schlacke in großen Mengen. Vor dem Bühnenbild aus bekannten Klausenburger Elementen hält die radikale Eigentümlichkeit Einzug. Wir wissen allerdings nicht, wie viel die Schüler der Mittelstufen von der auf diesen Ort zugeschnittenen Produktion verstehen werden, zumal es wohl ihre erste Hamlet-Erfahrung sein wird. Doch diese Frage bleibt dann wohl ihren Lehrern überlassen.“

Lívia spielt die Ophelia, doch dies war nicht von Anfang an klar; Nóra Bányai stand ebenfalls zur Diskussion, sowie zwei, drei andere Theaterstudentinnen im vierten Jahr ihrer Ausbildung. Nein, hierin wird Nóra nicht mitmischen. Schließlich triumphierte Lívia, weil sie wunderbar vielseitig ist, genau an der Grenze zwischen provokativem Vamp und frühreifer Frau. Durch ihr Äußeres wäre sie für naive Rollenbilder prädestiniert, doch sie schafft es stets, aus diesem Käfig auszubrechen.

Gut, es ist offensichtlich, dass ich sie zu früh bekommen habe. Ja, die Frau auch, aber diese Rolle ganz besonders. Noch während der Ausbildung wurde ich mit dankbaren Rollenangeboten beworfen, doch nichts zuvor traf so sehr ins Schwarze. Als Sulyok mich zum ersten Mal fragte, ob ich Lust auf Hamlet hätte, sagte ich: Nicht doch! Mein ganzes Wesen erzitterte. Im Falle von Hamlet gibt es in erster Linie für den Schauspieler kein leeres Feld, auf dem er arbeiten könnte. Und mir erleichtert es nicht notwendigerweise meine Sache, wenn ich schon bei der Leseprobe weiß, wie ich zu sein habe.

Prinzipiell bin ich Regie-zentriert. Ich kann nicht tiefer in ein Stück eindringen, bis ich in angemessenem Umfang Impulse bekomme. Von mir aus auch in Form eines Arschtritts, wie ich ihn zuletzt von Sulyok im Rahmen von Hexenjagd erhielt. Später, wenn ich einmal den roten Faden gefunden habe, kann ich mich nach vorne, hinten, rechts und links bewegen, aber es ist wichtig, dass man mir einen Anstoß gibt, sonst bin ich wie gelähmt. Die Tatsache, dass wir in der Ausbildung die alten Griechen mit Tikász Buchstabe für Buchstabe durchgegangen sind und sie so eingehend zerlegt haben, dass sie beinahe zu unseren Nachbarn wurden, hilft mir heute noch.

„Kinder, wisst ihr schon das Neueste? Die Zeit ist aus den Fugen geraten. Und nicht nur in Ungarn. Alex, eines Morgens erwachst du mit dem Gefühl, vollkommen allein zu sein“, erklärte Sulyok bei der ersten Probe. „Normalerweise bist du morgens stets tatenfroh, doch heute hast du überhaupt keine Kraft in den Gliedern. Dein Vater wurde von deinem boshaften Onkel umgebracht, der etwas im Schilde führt. Deine Mutter vermählte sich mit ihrem Liebhaber. Du wirst als Sohn deines Vaters ständig gedemütigt. Der Liebe bist du überdrüssig. Du fühlst dich unwohl in deiner Heimat. Deine Landsleute schubsen sich gegenseitig auf der Straße, trampeln sich in der Bank für eine bessere Ordnungszahl nieder. Die Menschen der Elite scheinen dir erbärmlich kleinlich, feige und verlogen zu sein. Du vermutest, dass sie dies anderswo auch wären, doch zufällig wurden dir genau diese hier zuteil. Nimmst du deinen verhassten Hof hin, nennt man das Sozialisierung. Stemmst du dich gegen all dies, nennt man es, je nach Betrachtungswinkel, antisoziales Verhalten, Anarchie oder Infantilität. Du, mein Sohn, wirst dich auflehnen. Wir können uns nämlich gar nicht vorstellen, dass sich dieser junge Mann eingliedert und nach Claudius‘ Erbe lechzt, nicht wahr, Alex?“, sagte er und warf mir wieder einen Blick zu. „Nein. Du wirst es sein.“

„Es werde also wirklich ich sein?“, staunte ich.

„Du würdest ein großer König werden, wenn wir es zuließen.“

„Hahaha“, erheiterte sich Brúnó und fuhr sich durchs strähnige, gelblichweiße Haar.

„Denk darüber nach, Alex“, fuhr Sulyok nach der Kaffeepause fort, „wie du diese Rolle anlegen möchtest. Bestimmt nicht aus einer Ecke startend. Nicht in einem dunklen Winkel verkrochen. Nein, nein. Das ist ein frontaler Angriff gegen alles, was du verabscheust.“

Eines Tages kam dann der Wendepunkt, ab dem ich die Proben als befreiend empfand.

Ich lernte hier, was es bedeutet, minutiös zu sein. Das endlose Herumexperimentieren schweißte uns zusammen. Und von den aufblitzenden Lösungsansätzen begannen unsere Gesichter zu strahlen. Eine gemeinsame Sprache entwickelte sich zwischen uns, doch zugleich blieb die Neugier an der Person des anderen erhalten, ohne die all das vergebens gewesen wäre.

Im Milán-Füst-Theater mussten alle zu jeder Zeit sprungbereit sein.

Wie große Erwartungen auf uns lasteten, war uns scheißegal. Anders wäre es nicht gegangen. Sulyok hatte sich bereits als junger Regisseur im Zuge seiner ersten Shakespeare-Inszenierung in Nyíregyháza in den Kopf gesetzt, einen kalten Hamlet zu machen. Er ließ ihn mit demselben Grenzen auslotenden, frischen Text, mit dem wir arbeiten, in einer betrieblichen Umgebung im Stil von Lars von Trier aufführen: Büro, Anzug, Kostüm. Viele Momente hatten in seinem Kopf bereits Form angenommen, noch bevor er tatsächlich mit der Regie begann. Arvo Pärts Musik und die Geräusche. Er hatte auch lange darüber nachgedacht, ob der Geist von Hamlets Vater überhaupt in physischer Form in Erscheinung treten sollte. Er kam zu dem Entschluss, dass der alte Hamlet ständig zugegen sein und seinen Sohn gar anleiten soll. Es gibt häufig Inszenierungen, in denen der Vater im Gegensatz dazu bloß eine Halluzination ist. Oder solche, in denen Claudius auch Ophelia fickt; und noch Tausende andere. Der Umstand, dass unsere Welt nicht mehr die Luft der dänischen Dogma-Filme atmet, sondern die unserer HEIMAT, was auch immer dies heißen mag, half ein wenig. Gewichtig, tiefsinnig, und doch muss man hin und wieder lachen, sagten meine Freunde.

Vor jedem Einschlafen stellt sich die Frage: Was versucht dein Regisseur durch dich herauszuarbeiten? Nicht bloß die Geschichte des Erwachsenwerdens, nicht den in jeden Winkel hineinleuchtenden Hamlet, auch nicht den alles vorkauenden und erklärenden Hamlet, nicht den die im Stück enthaltene Humorquelle ausbeutenden Hamlet, nicht den in der Kneipe brainstormenden, auf wilde Improvisation aufbauenden Hamlet, nicht den im Blutrausch aufgehenden, rachsüchtigen Hamlet, nicht den Hamlet mit drei Darstellern oder den dicken Hamlet, das trotzige, depressive Dickerchen, doch auch nicht den Hamlet in der Interpretation des Narodniki-Intellektuellen Wyssozki, oder den Hamlet von Sir Laurence Olivier, schon gar nicht den von Miklós Gábor, aber auch nicht den von Goethe;

nein, sondern den Hamlet deines Lebens, das ist schon mal sicher.

Meines Lebens auf jeden Fall, da ich wohl kaum mehr als diesen einen haben werde. Er wird auch dann zum fundamentalen Teil von mir, wenn ich versage. Es ist ein gutes Gefühl zu erleben, wie es ist, wenn man eine gesamte Vorstellung auf den Schultern trägt. Ich habe die Rolle zu früh bekommen, tatsächlich? Ja, ja. Es kommt wieder darauf an, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. Für andere wäre diese Rolle zu spät gekommen. „Ansatzweise sieht er noch immer wie ein Kind aus“, schrieb man über mich. Wer in seiner mit aufrechten oder unschönen Mitteln aufgebauten Karriere plötzlich eine Ebene aufsteigt und nicht dazu fähig ist, diesen wichtigen Moment zu nutzen, anstatt viele Monate zu verschwenden, ist selbst schuld, wenn er den Faden verliert.

Diese Darbietung wurde zur Golddeckung meiner bisherigen Laufbahn. Wie Brúnó es gerne ausdrückt: Sie schlug mir in die Fresse. Sie hebt mich in die Luft, ich kann mich in ihr vor meinem zivilen Dasein verstecken. Sie gab mir Ambition. Ich bekam eine Rolle, die von einem unstillbaren inneren Feuer genährt wird. Hamlet ist das Warum, das jedes Wie überragt.

Author

János Térey

TÉREY JÁNOS, geboren in Debrecen am 1

 

Translator

Ágnes Nagy