Die Semiosphäre der französischen Revolution in den Reisebriefen Nikolaj M. Karamzins

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Publisher: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publication Date: 11. November 2014
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Country: Austria
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Die Semiosphäre der französischen Revolution in den Reisebriefen Nikolaj M. Karamzins

Durch die Reiseliteratur werden nicht nur neue fremde Länder dargeboten, wobei diese aus der Sicht des Reisenden dem einheimischen Publikum vorgestellt werden, sondern es werden sogleich die eigenen Länder und ihre Kultur neu sichtbar gemacht. Mit anderen Worten, durch die Reiseliteratur wird einerseits eine andere, neue Kultur oder Zivilisation – diesen Unterschied werden wir noch im weiteren Verlauf behandeln – vorgestellt, wobei der neuen Kultur, soweit es sich um „primitive Völker“ handelt, die Zivilisation oft abgesprochen wird; andererseits wird die eigene Kultur und Zivilisation einer neuen Perspektive unterworfen und somit verfremdet. Es handelt sich also nicht nur um einen Blick auf das Fremde – ein Thema, das in den letzten Jahren in den postcolonial studies einen so hohen Stellenwert einnimmt – sondern es wird die eigene Kultur verfremdet und unter einer neuen Perspektive neu verstanden. Dabei gibt es zwei Tendenzen: der Reisende kommt aus einer alten Kultur und lernt eine junge, naturverbundenere kennen oder er entstammt einer jungen Kultur und lernt eine alte, die Kultur an sich kennen. Das letztere ist bei Nikolaj M. Karamzin, den wir in unserer Untersuchung behandeln werden, der Fall. (Лотман 1997, 21)

Karamzins Reise findet genau zur Zeit der französischen Revolution statt und es ist die Frage, wie gut Karamzin die Semiosphäre Frankreichs und der Revolution versteht und inwiefern es zu einem verfremdenden Verständnis kommt, wobei betont werden muss, dass sich Karamzin sehr gründlich auf die Reise vorbereitet hat. Jean Starobinski merkt in seinen „1789 [Mil sept cent quatre-vingt-neuf], les emblèmes de la raison“ an:  „Die Künstler von 1789 sind allemal Zeitgenossen der Revolution, gleichgültig ob sie ihr Aufmerksamkeit schenken oder sie nicht beachten.“ (Göbel/ Starobinski 1981, 18) Außerdem unterscheidet sich der konkrete Reisende Karamzin sehr stark von dem Reisenden in den Briefen Karamzins, was in Lotmans Monographie über Karamzin sorgfältig ausgearbeitet worden ist.[1] Dies hat zur Folge, dass der Reisende bestimmte wesentliche semiotische Informationen nicht wiedergibt, die dem konkreten Karamzin durchaus bekannt waren oder sie anders darstellt.

Das erste Motiv der Reisebriefe Karamzins  Abschied, wo der Reisende mit den Zeichen der Zeit konfrontiert wird, zeigt die französische Königin Antoinette und ihren Bruder Joseph II. als Karikatur, wodurch der ständige Hintergrund der Französischen Revolution, der die Reise begleitet, angedeutet wird, der dann jedoch in Paris zum unmittelbaren Schauplatz wird, wo sich Karamzin im Epizentrum der Revolution befindet.

«Во всю дорогу не приходило мне в голову ни одной радостной мысли; а на последней станции к Твери грусть моя так усилилась, что я в деревенском трактире, стоя перед карикатурами королевы французской и римского императора, хотел бы, как говорит Шекспир, выплакать сердце свое.»

Die zweite Konfrontation mit den Ausläufern der Französischen Revolution findet in der Schweiz statt und zwar im Motiv Begegnung mit Emigranten. (Карамзин 1984, 99) Diese Emigranten sind Angehörige des Ancien Régimes in Frankreich und sind vor oder wegen der Französischen Revolution geflüchtet. Diese aufgeladene Atmosphäre der Französischen Revolution kommt ganz unvermittelt in das Reistagebuch Karamzins, was zugleich zeigt, dass sein Reiseprogramm durchaus nicht damit gerechnet hat und dass er es entsprechend diesen neuen Umständen zum Teil neu strukturieren muss.

„Ты пролетела, минута молчания и тишины! Но глубокие черты оставила ты в моем сердце, которые всегда будут воспоминать мне чувствительность людей — ибо она превратила нас в камень, когда мы увидели отца и мать, сына и дочь, с жаром, с восторгом обнимающих друг друга!  (Карамзин 1984, 99f.)

Diese ganz im sentimentalen Stil Karamzins dargestellt Szene, lässt die Hintergründe ganz offen und wir finden keinerlei Hinweise auf die Ereignisse der Französischen Revolution, geschweige denn ihr Zeichensystem. Die Emigranten, die in der „Zauberflöte“ eine so gewichtige Rolle spielen und zugleich als böse Kräfte dargestellt werden, sind hier einfach nur vom Schicksal betroffene Geschöpfe.

Lotman weist in seiner Monographie über Karamzin darauf hin, dass für diesen die Schweiz und Großbritannien im Gegensatz zu Frankreich die Modelle freier Staaten darstellen, insbesondere der Kanton Bern wird von ihm hervorgehoben. Karamzin bezeichnet den Kanton Bern als Republik und die Gesellschaftsordnung als beinahe demokratisch, wobei seine Sympathie für sie klar zum Ausdruck kommt.

«[…] правление сего кантона можно назвать отчасти демократическим, потому что каждому гражданину открыт путь ко всем достоинствам в республике и люди самого низкого состояния бывают членами большого и малого совета, […]» (Карамзин 1984, 100)

Solange in der sowjetischen Literaturwissenschaft der scharfe Gegensatz zwischen Radiščev und Karamzin gepflegt wurde, blieb die demokratische Haltung Karamzins verdeckt. Erst Lotman stellt diese ideologische Disposition heraus, was jedoch ein Grund dafür war, ihn wissenschaftlich zu marginalisieren.

Vielleicht können wir allgemein für die Motive des Reistagebuches sagen, dass es keine Katastrophen, Unfälle oder Verbrechen in der erzählten Gegenwart gibt; diese finden entweder in der Vergangenheit oder irgendwo anders statt. So ist ein Beispiel für ein effektvolles Motiv, dass der Reisende nicht erlebt, sondern auf Berichte von Augenzeugen angewiesen ist - wobei ihre Augenzeugenschaft nicht unbedingt gegeben ist – ist folgendes Motiv Hinrichtung durch das Volk.

„Я завтракал ныне у г. Левада с двумя французскими маркизами, приехавшими из Парижа. Они сообщили мне весьма худое понятие о парижских дамах, сказав, что некоторые из них, видя нагой труп несчастного дю Фулона, терзаемый на улице бешеным народом, восклицали: «Как же он был нежен и бел!»“  (Карамзин 1984, 154)

Die Französische Revolution wurde auch stark durch die Musik – auf die „Zauberflöte“ haben wir schon hingewiesen – und durch den Tanz vorbereitet und getragen. So erlebt Karamzin einen Tänzer, der zu einem Symbol für die Revolution wird. Wobei er im Text von Zuschauern, die nicht unbedingt als Anhänger der Revolution zu bezeichnen sind, jedoch von seinem Tanz fasziniert sind, pejorativ apostrophiert wird.

„C'est dommage qu'il soit bête. [Es ist schade, dass er so ein Tier/ Dummkopf ist.] Je le connois très bien. [Ich kenne ihn gut.] («Жаль, что он превеликая скотина. Я его знаю».)“ (Карамзин 1984, 196)

Hier liegt wahrscheinlich eine Verwechslung mit dem Vater vor, dessen Ungebildetheit genauso berühmt war, wie seine Tanzkunst. Diese Metapher „Vestris ist ein Rindvieh“ entsteht durch die Übersetzung ins Russische, wobei die Sprache gewechselt wird, ein sogenanntes Switching, denn eigentlich ist es nur in der Übersetzung eine Metapher, im Französischen hat „bête“ zwei Bedeutungen, wobei in der Übersetzung nur eine transponiert wird und dadurch entsteht die Metapher. Im Zitat fällt außerdem eine graphemisch-lexikalische Abweichung auf: „connois“ müsste „connais“ sein, was auch durch die Übersetzung deutlich wird. Jedoch ist diese Schreibweise historisch bedingt, in der Aussprache hatte der Wechsel schon stattgefunden, doch graphemisch war noch die Schreibweise wie sie Karamzin verwendet hat üblich. (Heinrich Pfandl in der anschließenden Diskussion.) Beim Wechsel in die andere Sprache setzt immer  dieser Übersetzungsvorgang ein, der der ganzen Reiseliteratur zu Grunde liegt. Bei Karamzin wird auf französischsprachigem Gebiet dieses Übersetzen entblößt, während dies im deutschsprachigen Gebiet nicht der Fall ist. Wenn auf Deutsch die Phrase wiedergegeben wird, ist sie zudem meist fehlerfrei.

Unter Paris … Mai 1790 findet wir die Eintragung:

„Нынешний день молодой скиф К* в Академии надписей и словесности имел счастие узнать Бартелеми-Платона.“ (Карамзин 1984, 251)

Wer dieser junge Skythe ist, ist durch die Initiale klar erkennbar, jedoch auch Jean-Jacques Barthélémy wird von dem Autor durch die Metapher Бартелеми-Платона mythologisiert; diese Orientierung an der griechischen Mythologie steht im auffälligen Kontrast zur Mythologisierung der Französischen Revolution, die sich auf die römische Republik bezog.

Ein interessanter Vergleich tritt in dem Polylog im Theater in Lyon auf, was natürlich eine merkmalhafte Abweichung von der durchgehenden Stilisierung als Briefroman oder besser als Reisebericht in Briefen ist.

«Один. Что ты говоришь! Русские все богаты, как Крезы; они без денег в Париж не ездят. (Карамзин 1984, 196)

Dieser Vergleich erscheint mir auch deswegen sehr interessant, weil er dem heutigen Bild eines bestimmten Teiles der russischen Touristen in Europa, den sogenannten „neuen Russen“ entspricht. Der König Krösus wird hier also im Plural verwendet, er wird zu einem Symbol, das multipliziert werden kann und zugleich wird diese Symbolik mit einem poetischen Vergleich kombiniert. Obwohl es sich hier um eine nicht sehr tiefgehende Unterhaltung handelt, setzt mit diesem Vergleich eine Neomythologisierung der Russen ein. Anderseits zeigt dies, wie mythologische Elemente in die Alltagssprache herabsinken.

Die Kleiderordnung, die Semiotik der Mode, ist ja bekanntlich für die Französische Revolution nicht von geringer Bedeutung, da sie sogar den dritten Stand nach einem Kleidungsstück bzw. nach dessen Abwesenheit benannte: Sansculotten.

Dass Karamzin die Kleidung der Männer immer mit „Kaftan“ bezeichnet, ist auch eine Transposition in seinen semiotischen Code. Auffällig ist während der ganzen Reise, dass die männlichen Personen auch in Westeuropa Kaftane tragen, sei es in Basel oder London. In der Übersetzung wählt Richter die Bezeichnung Frack, wobei diese Bezeichnung nicht so unschuldig ist. Unten [9, 10] sehen wir die beiden Kleidungsstücke zur Zeit Karamzins, den russischen Kaftan und den französischen „frac“. Zur Zeit der Französischen Revolution änderten sie sich noch ein bisschen, die Kragen und Aufschläge wurden übermäßig groß und sie wurden die „uncroiablen“ genannt. Auf diese Fracks begann mit dem Regierungsantritts Pavel I., dem im in den Reisbüchern erwähnten „Graf Norden“, eine Jagd, da sie mit der Französischen Revolution in Verbindung gebracht wurden und so verdächtig waren, staatsfeindlich zu sein. So ist die Verwendung „Kaftan“ in den Briefen nicht nur eine Codierung in die russische Semiosphäre, sondern auch die Wahl eines merkmallosen, unverdächtigen Lexems.

Nach dem ersten Kennenlernen von Paris, was hier weniger eine Besichtigung als ein Eintauchen in die Atmosphäre ist, tritt das Motiv Volksfest auf, was konkret als „Osterspaziergang“ bezeichnet wird. (Карамзин 1984, 230) Wenn wir nun die Spezifizierung des Motivs Osterspaziergang als eigenes herausnehmen, dann ist das Besondere an ihm, dass dies zwar eine jährlich wiederkehrende Zeremonie ist, ein Ritual, das sich unter den gegebenen Umständen nicht mit den vergangenen vergleichen lässt, da durch die Revolution die alte Oberschicht nicht mehr vorhanden ist. Andererseits kodiert Karamzin das Volksfest in seine Semiosphäre um und setzt es mit den Spaziergängen am ersten Mai in Moskau gleich.

„‘Смотрите! Вот едет торговка из рыбного ряда с своею соседкою башмачницею! Вот красный нос, самый длинный во всем Париже! Вот молодая кокетка в семьдесят лет:“  (Карамзин 1984, 230)

Danach tritt gleich ein Oxymoron auf, die junge Kokette von siebzig Jahren. Kann der gehörnte Kavalier als Symbol bezeichnet werden oder ist dies nur ein Phraseologismus?

«Вот кавалер святого Лудовика с молодою женою и с рогами!» (Карамзин 1984, 230)

Durch die syntaktische Verknüpfung wird der „Besitz“ des Kavaliers ironisiert, indem die junge Frau und die Hörner einander gleichgestellt werden. Hier ist das Wort „Orden“ ausgelassen, denn es ist selbstverständlich ein Kavalier mit dem Orden des heiligen Ludwig; nicht ein Kavalier des Heiligen. Dieser Abschnitt ist ganz dicht mit semantischen Figuren durchsetzt. Der Philosoph, der seinen Geist weit unter seinem Preis verkauft ist eine komplexe antithetische Metapher.

„Вот философ, который продает свой ум за две копейки!‘“ (Карамзин 1984, 230)

Der Geist wird konkretisiert und kommerzialisiert, er wird zur Ware herabgestuft; jedoch ist der Philosoph unfähig zum Handel und verschleudert seine Ware, wodurch die Kommerzialisierung des Geistes insgesamt ironisiert wird. Eine Substitution, Stöcke werden durch Holzsäbel ersetzt, bleibt etwas rätselhaft. Die Dandys ersetzten ihre feinen Spazierstöcke durch Holzschwerter, um sich auf diese Weise dem Volk anzunähern.

« Другие бродили пешком с длинными деревянными саблями вместо тростей, pour se confondre avec le peuple. » [Andere bummelten zu Fuß mit langen hölzernen Säbeln anstelle der Stöcke, um sich mit dem Volk zu vermengen.] (Карамзин 1984, 230)

Nach den Anmerkungen (Карамзин 1984, 648) war das Tragen von Holzsäbeln eine Mode der Petitmaitres zur Zeit der Französischen Revolution, also gerade der Gruppe, zu der sich Karamzin zählte; doch verzichtet Karamzin hier auf jeden Kommentar, ob er sich selbst einen solchen Säbel zulegen will oder ob er dies als Anbiederung an das gemeine Volk ablehnt. Darum erscheint diese Anmerkung so rätselhaft, weil offensichtlich etwas fehlt.

Der ständige Aufenthalt in Theatern ist zwar ein auffälliger Umstand der Zeit in Paris, aber schon in Lyon steht der Theaterbesuch an erster Stelle; das Motiv „Theaterbesuch“ schiebt sich in die gewohnte Motivfolgen, die bei jeder neuen Stadt zu beobachten war: Ankunft → Quartierfinden → Stadtbesichtigung.

Das folgende sehr umfangreiche Motiv, das die Theaterwelt von Paris beschreibt, könnten wir als einen großen Theaterbesuch bezeichnen, der alle Theater von Paris einschließt. Hier bekommt der Text passagenweise publizistischen Charakter, in anderen Passagen ist er erstaunlich stark künstlerisch strukturiert. Interessant sind die Epitheta für Paris.

«Как они хороши весною, даже и в шумном, немиловидном Париже!» (Карамзин 1984, 231)

Karamzin nennt zuerst nur fünf Theater als die wichtigsten, aber später kommt er noch auf weitere zu sprechen; insgesamt gab es zu dieser Zeit sechzehn Theater in Paris. (Карамзин 1984, 648)

Ein phraseologischer Vergleich, der dadurch, dass er im Text auftritt, ein poetischer Vergleich wird. Wir erfahren vom Autor, dass es diesen phraseologischen Vergleich gibt. Aber das kann auch eine Finte sein, wodurch der Vergleich umso mehr zu einem poetischen wird.

«Кто был в Париже, говорят французы, и не видал Большой оперы, подобен тому, кто был в Риме и не видал папы.» (Карамзин 1984, 231)

Es wird eine Gleichung aufgestellt: Paris → Große Oper @ Rom → Papst. Dadurch wird die Oper dem Papst gleichgestellt. Was heißt das? Wird der Papst dadurch zu einer Kunstinstitution wie die Oper? Oder wird durch den Vergleich die Oper sakralisiert? Wahrscheinlich eher das.

Der ständige Aufenthalt in Theatern ist zwar ein auffälliger Umstand der Zeit in Paris, aber schon in Lyon steht der Theaterbesuch an erster Stelle; das Motiv „Theaterbesuch“ schiebt sich in die gewohnte Motivfolgen der Reisebriefe, die bei jeder neuen Stadt zu beobachten war: Ankunft → Quartierfinden → Stadtbesichtigung.

Das folgende sehr umfangreiche Motiv, das die Theaterwelt von Paris beschreibt, könnten wir als einen großen Theaterbesuch bezeichnen, der alle Theater von Paris einschließt. Hier bekommt der Text passagenweise publizistischen Charakter, in anderen Passagen ist er erstaunlich stark künstlerisch strukturiert. Interessant sind die Epitheta für Paris.

«Как они хороши весною, даже и в шумном, немиловидном Париже!» (Карамзин 1984, 231)

Starobinski meint, dabei bezieht er sich auf Baudelaire, dass die Revolution von Lüstlingen gemacht worden sei, die dem Ancien Régime angehörten und von einem Todestrieb besessen waren. Diesem heroisch-anstößigen Typ würde Mirabeau genau entsprechen. (Starobinski 1981, 36f.)

Die Kaffeehäuser stehen durchaus nicht in Opposition zu den Salons, und ihre Zeit ist auch nicht abgelaufen, wie Lotman schreibt, denn in dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts leben sie zumindest wieder auf. Zur Zeit des Aufenthalt Karamzins in Paris besuchen die Salons die Vertreter des Ancien Régime, aber auch Mirabeau hält sich abends in Salons auf.

Wie wir schon gesagt haben, bezeichnet Karamzin die Salons als Teil der vergangenen Welt, des „Ancien Régime“ und langweilt sich in ihnen, doch wäre dort gerade der Platz des „Petit Maître“, des Dandys, gewesen, der Typ, dem Karamzin zugerechnet wird; doch er sieht, dass auch diese von ihm eingenommene Rolle sich – zumindest in Frankreich – überlebt hat. (Лотман 1997, 125)

Der Salon Helvétius, der sich „Société d'Auteuil“ nannte, war die klassische Form des Salons, die Karamzin interessierte. (Лотман 1997, 128) Hier versammelten sich d‘ Alembert, Didraut, Teurgeau und Condors, Galgyani, Cabanise, Beccari, Marmontel, Morley, Diclau, Saint-Lambert. (Даламбер и Дидро, Тюрго и Кондросе, Гальяни, Кабанис, Беккария, Мармонтель, Мармонтель, Мореле, Дюкло, Сен.Ламбер, Волней, Сийес, Шамфор) (s. die Aufzählung S. 128) Dort sei die Stimmung ungezwungener gewesen als bei Madame „Geoffrin“ und Madame Necker. (ebd.) Im Société d'Auteuil [Отейль] war am Anfang der Revolution schon eine andere Stimmung. (Лотман 1997, 128) Lotman bestimmt sehr eindrücklich die verschiedenen Rollen, die Mirabeau tagsüber durchspielte. Tagsüber in der Nationalversammlung (Assemblée nationale), abends im Salon Helvétius. Morgens ein politischer Intrigant, tagsüber ein Volkstribun, abends ein Philosoph des 18. Jahrhunderts. (Лотман 1997, 128)

In diesem Monat, im Juni, tritt die Beschreibung der Theaterbesuche weit zurück und wir wissen eigentlich nicht, ob der Reisende, wenn er keine Ausflüge in die Umgebung unternimmt, noch so häufig im Theater ist. Im Brief <127> beschreibt er jedoch einen Besuch in der Nationalversammlung.  Anhand dieses Briefes zeigt Lotman, wie die Stilisierung des russischen Reisenden durch Karamzin durchgeführt wird. So wird er von  Rabaut-Saint-Étienne an den „Schildwachen“ vorbeigeführt. Dieser steht später am Präsidententisch und eröffnete durch ein Klingeln die Versammlung.  Rabaut-Saint-Étain war jedoch nur vom 15. bis 28. März 1790 Präsident der  Assemblée constituante und wir befinden uns im  Juni 1790. Er war an der Formulierung der neuen Verfassung maßgeblich beteiligt, setzte sich als protestantischer Pfarrer für die Rechte seiner Konfession  ein. Das ist wichtig, da einer der wichtigsten Gegenspieler Mirabeaus Abbé Maury war, der bei der beschriebenen zweiten Szene, wo ein Antrag auf den Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche eingebracht wird, eine wichtige Rolle spielt. Mirabeau spricht von dem Fenster Karl IX., aus dem dieser geschossen habe; was Maury wörtlich nimmt und dadurch eine Pointe erzielt. Mirabeau hatte eigentlich nicht direkt von Karl IX gesprochen, sondern diesen paraphrasiert und dadurch schon verfremdet.

„Мирабо оспоривал, говорил с жаром и сказал: «Я вижу отсюда то окно, из которого сын Катерины Медицис стрелял в протестантов!» Аббат Мори вскочил с места и закричал: «Вздор! Ты отсюда не видишь его».“ [Mirabeau stritt, redete mit Hitze und sagte: „Ich sehe von ihr das Fenster, aus welchem der Sohn Caterinas de’ Medici auf die Protestanten schoss!“ Abbé Maury sprang vom Platz auf und schrie: Unsinn! Du siehst es von dort nicht!“]  (K/I 256/504)

Gerade das letzte Beispiel zeigt gut, dass zumindest der Reisende der Briefe gut über die französische Semiosphäre zur Zeit der Revolution informiert war, denn sonst hätte er den Witz dieser Anekdote nachvollziehen können und sie wohl kaum in den Reisebericht aufgenommen, da es sich nicht um ein eigenes Erlebnis handelt. Karamzins Alltag war in Paris von einem regelmäßigen Theaterbesuch geprägt, wobei das Theater dort die Bedeutung besitzt, die in der Schweiz die Natur für ihn hat. Das Theater bildet im Text eine sekundäre, abgeleitete Wirklichkeit, die der primären Wirklichkeit der Salons gegenübergestellt wird, die jedoch schon ihr Ablaufsdatum überschritten hat. In der Stadt Paris kommt es zu einer Metaphorisierung und Mythologisierung der Stadt, wobei diese hydromorphisierende ist und jene hauptsächlich auf der Champs d‘ Elysee entwickelt wird.

 

Literatur:

Карамзин, Н.М. Письма русского путешественника. M. 1986

Lehmann-Carli, Gabriela: Aufklärungsrezeption und Kulturkonzepte in Russland. N.M. Karamzin und sein literarisches Umfeld (Habilschrift), Potsdam 1997.

Лотман, Ю.М. Карамзин. СПб. 1997

Starobinski, Jean: 1789, les emblèmes de la raison. [dt. Gundula Göbel 1981] Paris 1979

Vortrag auf dem 3. Österreichischen Slawistentag am 7. November 2014 in Graz

[1] Diesem Unterschied widmet sich auch die Habilitation von Gabriele Lehmann-Carli.

Author

Stephan-Immanuel Teichgräber (kurz)

Literaturwissenschaftler und Übersetz