Die Kunstreiterin (Ausschnitt)

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Publisher: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur, DomL
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Publication Date: 1. Juni 2015
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In stock: YES
Country: Austria
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Uršuľa Kovalyk
Die Kunstreiterin
Und wir hatten schon zwei kleine Urnen. Würdig im antiken Sekretär aufbewahrt. Ich be-rührte sie und erzählte, was es neues gibt. Mama warf den Plunder aus Großmutters Schrank heraus. Zerrissene Nylonstrümpfe, Lockenwickler, Haarnetze, Brillenetuis. Alle Klei-der schenkte sie der Nachbarin in Parterre. Immer wenn ich sie in geblümten Kleidern traf, stach es mir ins Herz. Unsere Wohnung wurde still. Es waren in ihm keine ungarischen Flü-che und Lieder zu hören. Mama hatte niemanden zum Streiten und zum Pokerspielen bis in die Nacht. Sie konnte nicht mit Verehrern ins Kino gehen, denn sie musste waschen, sich um mich kümmern und kochen. Wir schauten einander an, dachten an Babča und dann weinten wir beide lange. „Das vergeht“, sagte Mama und ging sich Wein einschenken. Im Kindergar-ten war ich plötzlich viel länger. Mama arbeitete bis vier und so war ich unter den letzten, die fortgingen. Wenn sie den Autobus verpasste, nahm mich die Genossin Kindergärtnerin mit nach Hause. Im Wohnzimmer hatte sie eine prachtvolle, uralte Uhr. Immer erklang zur vollen Stunde ein Bim-bam-bom. Und ich wusste, dass ich hier schrecklich lange war. Außer Atem drückte sie mich an den feuchten Mantel. Sie entschuldigte sich, dass sie einen blöden Chef habe, der sie nicht früher gehen ließe. Die Kindergärtnerin sagte streng: „Was machen Sie, wenn Karolína beginnt in die Schule zu gehen? Außerdem, das Kind braucht einen Vater.“ So begann Mama mir einen Papa zu suchen. Ich entwarf ihn auf einer Zeichnung. Ich zeigte die Zeichnung Mama, aber sie sagte, dass das doch Babča sei. „Genauso einen will ich, “ trampelte ich mit dem Fuß und schaute sie sehr garstig an. Sie hatte es schwer mit mir.

Ich bekam nicht nur herrschsüchtige Launen, sondern die nimmersatten Scheißhäusl nah-men uns die Wohnung. Denn das war eine Wohnung mit wenigen Quadratmetern für Pen-sionisten und unser Pensionist war gestorben. Mama unterschrieb im Betrieb irgendwelche Papiere, damit wir irgendwo wohnen konnten. Wir packten die Sachen, die Möbel und die Urnen und zogen in eine nichtfertiggestellte Siedlung am Ende der Stadt. Ich erinnere mich ganz genau. Die mit Möbeln beladene Vetrieska hielt vor dem Plattenbau. Der Chauffeur lud mich aus dem Auto aus und begann mit dem Helfer die ersten Schachteln auszuladen. Ich stand auf dem Gehsteig, überall voller Schlamm und wohin ich sah, standen haargenau glei-che graue Plattenbauten. Kein Baum, kein Spielplatz, nicht einmal ein Geschäft. Nur ver-streutes Blech, zerschlagene Wohncontainer und eine riesige Grube voll Wasser. Traurig quakten in ihr Frösche. Ich schaute Mama an, ob sie das ernst meint. Ob sie nicht anfängt, Ungarisch zu fluchen.
Ob sie den Chauffeur nicht zwingt, den Rückwärtsgang einzuschalten, und wir wieder in un-sere Wohnung zurückkehren, wo es noch nach Babča riecht. „Es wird gut, hab‘ keine Angst!“ sagte sie stattdessen und drückte mir eine Tasche in die Hand. Der Fahrstuhl ging noch nicht. Ich trottete langsam in den fünften und hörte die Reden der Männer, die den Sekretär die engen Treppen hinausschleppten. Mama war angefressen und sagte ihnen, dass sie sie nicht anficken sollen, denn unter uns ist ein Kind. Als wir alle Sachen hinausgetragen hatten, be-zahlte Mama die Möbelträger und schloss die Tür. Ich ging durch die leere Wohnung. Sie kam mir wie eine Eierschale vor. Zwei kleine Zimmer, ein Gang, eine Küche und ein Bad mit Umakart-Wänden. Die Spülung funktionierte nicht. Das ganze Wochenende spülten wir das Klo mit Wasser aus dem Eimer. Mama sagte mir, dass ich mir die Farbe für die Wände mei-nes Zimmers selbst aussuchen könne. Ich entschied mich für Orange. Es erinnerte mich an die Marillen, die ich in Miskolc mehrmals gegessen habe. So begannen wir in der neuen Siedlung zu wohnen. Definitiv schnitten wir die Nabelschnur durch, die uns auch nach dem Tod mit Babča verband.

Bald begann ich in die Schule zu gehen. Es war ein unansehnliches, graues Gebäude voller kalter Klassenräume. Die Räder der Bulldozer machten in der Erde auf dem Spielplatz riesige Gruben. Nach dem Regen waren sie voller Wasser. Wir fingen in ihnen Kaulquappen. Unaufhörlich bebten sie, als ob ihnen kalt sei. Als in die Siedlung immer mehr Familien mit Kindern zogen, füllte sich die Schule langsam. Sie begann Leben zu bekommen. In der Klasse waren wir dreißig. Dreißig Graßln, wie uns die Lehrerin nannte. Dreißig streitsüchtige Rotznasen und Rotznaser, die alles möglich machen wollten, nur nicht lernen. Mir gefiel das auch nicht. Das also nicht. Es war dort lauter „Ehre der Arbeit“. Zum Verrücktwerden. Am liebsten schaute ich in die riesigen, schlecht abgedichteten Fenster. In ihnen schwammen weiße Wolken. Ich sah dort Gesichter von Menschen, Riesen und manchmal auch Tieren. Es flogen schwarze Krähenflügel. Zuweilen erspähte ich auch einen krächzenden Falken, der bereit war, sich auf eine Ratte zu stürzen. Wenn der Wind wehte, bebten die Fensterscheiben. Sie schufen eine Melodie, nach der ich gerne tanzen wollte. Die Lehrerin warnte mich, schrieb mir Vermerke oder versuchte meine Aufmerksamkeit auf etwas Interessantes zu lenken. Auf das Skelett aus dem Kabinett oder ein Hühnerembryo in Formaldehyd. Mich interessierte jedoch das Leben hinter dem Fenster, keine Leiche. Mama quälte sich sehr mit mir, bis ich gelernt hatte zu schreiben. Es vermischten sich bei mir die Buchstaben, es machte mir keinen Spaß bis in die Unendlichkeit Wellenlinien zu zeichnen. Mit abgewetzten Ohren kletterte ich zu den höheren Jahrgängen hinüber. Später machten sie aus uns eine Schwimmklasse (Kumanenklasse). Wir bekamen eine neue Klassenlehrerin. Es war die charmanteste Bestie, die ich jemals getroffen habe. Vor den Eltern lieblich und lächelnd. Bei den Schülern wie ein Teufel. Im Augenblick, wenn die Tür hinter den letzten Eltern zugeschlagen warm, krümmte sich ihr Gesicht zu einer strengen Grimasse. Die Augen verengten sich zu zwei haßerfüllten Strichen. Sie krächzte, zischte und schlug mit einem langen Lineal auf den Tisch. Mit diesem Lineal schlug sie auch uns. Auf den Rücken, auf die Hände, auf den Kopf. Sie klopfte uns die Mengen ein, das kleine und das große Einmaleins und das Pioniergelöbnis. Mit jedem Linealschlag nach uns bekam sie ein Stück des nicht gelehrten Lehrsatzes und hatte das Gefühl, dass wir klüger seien. Klüger um eine weitere Prügelei. Wir hatten Angst vor ihr. Viele kotzten vor dem Unterricht. Sie ging zwischen den Bankreihen hindurch und kontrollierte, wie wir saßen. Ob wir den Ranzen aufgehängt haben, angespitzte Stifte im Federpenal und die Hände auf dem Rücken. Ich roch ihren Geruch. Sie stank wie faulendes Fleisch, beträufelt mit schrecklich süßem Parfeum. Es drehte sich mir der Magen um. Die Angst vergrößerte sich noch durch den „Duft“. Ich wollte fliehen. Mit dem Kopf das Fenster durchstoßen und irgendwo hinfliegen. Ich saß dort verstört und unfähig irgendetwas zu tun. Einmal machte ich diese Finte mit den Augen und blickte die Klassenlehrerin an. Ich sah in ihr eine dürre Polizistin mit Gummiknüppel in der Hand. Unheilverkündend lachte sie und fletschte dabei einen goldenen Zahn. Sie fuchtelte mit dem Knüppel und schrie: „Ich mache aus Euch Menschen!“ Einige Seelen sollte wirklich nicht mehr geboren werden.

Während die Schule die Hölle Nummer eins war, waren die Schwimmtrainingsstunden die Hölle Nummer zwei. Ich konnte den anderen Mitschülern nicht nachkommen. Ich konnte keine einzige normale Bewegung machen. Ich hielt mich zwar auf der Wasseroberfläche, aber das sah erschütternd aus. Ich platschte mit den Händen und drehte mich um die eigene Achse. Alle hatten das Gefühl, dass ich jeden Augenblick unterging. Die Mitschüler kugelten sich vor Lachen. Der Trainer ließ mich nach unendlichen Stunden des Quälens lieber auf der Bank sitzen. Ich war ein Tolpatsch. Die Hauptattraktion bei der Sportstunde. Eine Rolle vor-wärts war für mich ein unerreichbares akrobatisches Stück. Die Armmuskeln ließen mich den Kreis nicht schließen. Ich fiel wie eine faule Birne und bekam eine Fünf für eine Übung, die auch die völligen Dummköpfe beherrschten. Was schlimmer war, Mama nahm das Suchen eines Papas zu ernst. Sie kamen abends, wenn ich schon im Bett lag. Es erklang weiches Klopfen. Mama öffnete. Der Geruch des Mannes drang bis zu meinem Bett durch. Ich wusste, was kommt, wenn sie die Tür zu Mamas Zimmer schlossen. Mich ekelten diese Seufzer und Schreie. Ich war wahnsinnig eifersüchtig. Die Vorstellung, wie irgendein Mann Mamas Körper berührte, rief in mir unendliche Raserei hervor. Grimmig durchweinte ich die ganze Nacht. Gefesselt in meiner Machtlosigkeit. Ich lernte zu hassen. Mama stellte mir manchen Möchtegern-Freund vor. Einer hatte eine heißer gewordene Stimme und einen dichten Bart. Er gab mir ohne Interesse die Hand und starrte Mama auf die Brust. Wer wollte sich mit einem kränklichen Kind beschäftigen. Ich war hässlich, dürr, auf den Armen eiterte ein Ekzem. Große Ohren schauten durch die Haare, die zu dem erschütterndsten Schnitt geschnitten waren. Keine Lolitka, ein Versprechen für kommenden Sex. Kleine abscheuliche Flecken, die das begünstigte Männchen irreführten. Still saß ich im Wohnzimmer, aß Salzstangen und schaute, wie die beiden turtelten. Die indische Prinzessin mit dem Ohrring in der Nase streichelte die Pundula . Ihr Duft schlug dem Typ in die Nase, verdunkelte vollendet sein Hirn, bis er vergaß, dass ich existiere.
Lieber vergaß ich mich immer irgendwo. Im Kaufhaus, wo schwarze Pfefferminzgummiknüp-pel verkauft wurden, an der Haltestelle sammelte ich das verlorene Kleingeld, im Ausschank, wo Kofola (tschechoslowakische Art der Cola) gezapft wurde. Ich begann zu bummeln. Nach der Schule. Soll Mama arbeiten oder ein Rendezvous haben. Das Daheim war für mich traurig, ein leerer Käfig. Unsere Siedlung dehnte sich aus und ich fegte ihre Winkel aus. Nicht zu Ende gebaute Gebäude, Garagen, nicht angestrichene, rostige kleine Ausstiegsluken. Ich kletterte auf riesige Hügel unsinnig herbeigeschafften Lehms, watete im Kakaowasser der Baggerseen. Der zeitige Frühling vertrieb den ersten ein bisschen in sich verdrehten Huflattich an den Rand der Bordkanten. Der Wind wehte von den Baustellen mit Zement vermischten Staub und meine Haare wurden in der zu trockenen Betonluft elektrisiert. In der Schule bekamen wir zu Mittag Beuschel mit Schlagobers. Sein unerträglicher Geruch zog sich durch den ganzen Gang. Zum Mittagessen ging ich lieber nicht. Ich floh heim. Ich musste schrecklich pissen, im Aufzug knöpfte ich die Hose auf. Ich stürzte in unsere Wohnung und fand meine Mama mit dem Bärtigen im Badezimmer am Waschbecken. Ich stand dort als hätte ich mich verbrüht. Mit den Hosen auf halbe Stange. Die nackte Mama hielt in der Hand die violette Wurst des Bärtigen und steckte sie sich zwischen die Beine. In diesem Augenblick pisste ich ein. Vor Scham schnürte es mir die Kehle zu. Ich konnte nicht atmen. Einen Augenblick schnappte ich nach Luft und fühlte, wie mein Gesicht rot wurde. Die Wurst des Bärtigen in Mamas Hand wurde schlaff. Ich lief weg, verschloss mich im Zimmer und brüllte ins Polster. Mama lief aus dem Badezimmer. Sie rief mich. Klopfte. Der Bärtige beruhigte sie, damit sie nicht hysterisch wird. Ich bin schon groß und diese Dinge sind doch normal. Man sagt, ich sei ein überempfindliches Kind. Und sie solle zu mir strenger sein. Mir stach der Gestank von Mamas Tschik in die Nase. Sie stand hinter der Tür und redete irgendetwas von Liebe und davon, dass ich in der Schule sein müsse. Sie erörterte mir etwas über die Familie, einen guten Papa, gehorsame Mädchen und Ausflügen ans Meer. Dann verschwanden sie endlich. Mir war schlecht. Ich stand vor dem Spiegel. Ich hatte ein rotziges und angeschwollenes Gesicht. Ich kam mir schmutzig vor. Ich ekelte mich vor mir selbst. Mich ekelte Mama und ihr Frajer. Ich musste etwas tun. Ich ging also aus dem Haus. Ich ging schnell. Durch unsere ganze Siedlung. Ich ging an den Garagen, den Autowerkstätten und dem Magnesitwerk vorbei. Ich kam bis an das Ende der Stadt, wo an der Straße eine abgewetzte Tafel mit ihrem durchgestrichenen Namen weiß leuchtete. Ich ging weiter, entschlossen bis an das Ende der Welt zu schreiten. Wo ich keine nackte Mama und keine violette Wurst sehe. Ich lief direkt in die Felder hinein. Die Schollen der gepflügten Erde sahen wie die Rücken aus dem Meer springender Delphine aus. Der Wind roch nach Lehm und ich scheuchte ungewollt einen Fasan auf. Es schien, als sei das Feld unendlich. Die frische Luft öffnete mir irdentlich die Lunge. Ich begann endlich normal zu atmen. Im Gesicht zwickte mich der Schweiß. Ich knöpfte die Windjacke auf. Sonnenstrahlen fielen durch die zerrissenen Wolken auf die Erde. Sie erinnerten mich an einen Strohhalm im Glas mit Himbeersaft. Der Feldweg führte mich zu hohen Föhren bis an eine Stelle, wo Bärlauch wuchs. Der Wald roch wie frisch gebackener Toast. Er sah mich mit unsichtbaren Augen an. Ich spürte tausende auf mich gerichtete Blicke, die still auf den Ästen und in dunklen Löchern sitzen. Ein Paar Waldtauben plusterte scheu seine Flügel. Sie störten eine schwarz-weiße Elster. Sie begann verrückt zu krächzen und verschwand im Nebel, der sich über den Bäumen erhob. Ich trat bedächtig auf. Die prächtige Stille, die sich plötzlich auf dem Moos niedergelassen hatte, beruhigte mich. Ich weiß nicht einmal wie, ich kam zu einem rießigen Auslauf für Tiere. Dort stand ein Mädchen. Sie beugte sich über den Zaun. Mit einer Möhre in der Hand lockte sie ein graues, fettes Pferd. Das Pferd beobachtete sie phlegmatisch und kaute etwas durch. „Na so, Sesil, Karotterl! Komm!“ sagte sie und beugte sich so über den Zaun, dass sie fast auf der anderen Seite heruntergefallen wäre. „Scheinbar ist es überfressen,“ rief ich. Das Mädchen zuckte zusammen und drehte das Gesicht zu mir. An ihrem Kinn leuchtete ein großes Leukoplast. Sie zwinkerte mit grünen Augen und grinste: „Sesil, und überfressen? Das ist noch niemals jemandem gelungen! Diesen Vielfraß zu überfüttern!“ In diesem Augenblick bewegte sich das Pferd und nahm mit weicher, schwarzer Lippe bedächtig aus ihrer Hand die Karotte.
Übersetzung©Stephan Teichgräber
Quelle: Uršuľa Kovalyk, Krasojazdkyňa. Bratislava 2013, S.32-38

Author

Uršuľa Kovalyk

Wurde am 31.

 

Translator

Stephan-Immanuel Teichgräber (kurz)

Literaturwissenschaftler und Übersetz

 
Krasnojazdkyňa