Über-Lebender

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Publisher: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publication Date: 06.08.2021
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In stock: YES
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Country: Austria
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ÜBER-LEBENDER

(Roman, Ausschnitt)

 

Ich wurde geboren und erkrankte tödlich.

Was ich weiß: Die Haut von Säuglingen trocknet nach dem Verlassen des wohltuend feuchten Mutterleibs schnell aus, daher muss man sie eincremen, einsalben. Dennoch kommt es vor, dass das dünne Häutchen ein wenig einreißt. So geschah es auch am Mittelfinger meiner linken Hand, auf der Seite der Handfläche. Bis heute ist die Narbe sichtbar, wo später wohl auch ein Einschnitt gemacht wurde, um den angesammelten Eiter abfließen zu lassen. Sie legten einen Dunstverband an, in derselben Klinik, in der mein Vater zu dem Zeitpunkt schon arbeitete, nachdem er im Anschluss an eine Infektion mit beinahe tödlichem Ausgang der Pathologieabteilung entkommen war. Der Dunstverband half nicht, und ein paar Tage später schien, es würde gar nichts mehr helfen. Der behandelnde Arzt gab mich bereits auf, meinen Eltern wurde die traurige Nachricht mitgeteilt, dass nichts mehr getan werden konnte; es sei nur noch eine Frage von Stunden, höchstens ein paar Tagen, bevor es mit mir zu Ende gehe. Die Krankheit sei von einer Blutvergiftung in eine Knochenmarkentzündung umgeschlagen und fräße das Kind auf.

„Was habt ihr dazu gesagt?”, erkundigte ich mich später des Öfteren.

„Wir haben geweint”, entgegnete meine Mutter.

„Papa auch?”, fragte ich erstaunt.

„Aber natürlich”, antwortete sie stets ein wenig überrascht.

Am Friedhof, wenige Meter vom Eingangstor entfernt, dort, wo der zum Grab meines Großvaters führende Pfad die erste Kurve macht, stand eine kleine Steintafel. Mit kindlicher Schrift war darauf der Kosename „Karlchen” eingraviert.

Jedes Mal, wenn wir dort entlanggingen, deutete meine Mutter auf den Stein, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Mit der Zeit empfand ich dann eine Art Stolz. Dieses andere Karlchen war gestorben. Ich aber bin am Leben. Ich fand, das hatte schon seine Richtigkeit.

Trotz der schwerwiegenden Natur der Sache kam sie im späteren Verlauf meines Lebens nicht oft zur Sprache. Viel häufiger wurde über diesen oder jenen im Kindesalter begangenen Streich meinerseits gesprochen, über allerlei Faxen, die charakteristische Merkmale für mein „überlebtes” Leben geworden waren, als über das Leid, das das watschelige Kleinkind durchgestanden hatte.

Mein Vater war kein übertrieben fürsorglicher Mensch, zumindest zu Hause nicht; denn später hörte ich viele seiner Kollegen mit bewundernder Anerkennung sagen, mit welch ergreifender Freundlichkeit er sich an Babys und Kinder wandte, dass diese sofort die ihm innewohnende Güte spürten, sich ihm öffneten und häufig fast klaglos die mitunter schmerzhafte Behandlung über sich ergehen ließen. Vielleicht war das die Erklärung: Er hatte zum Zeitpunkt seiner Heimkehr seine Kinderseelen erwärmende Energie schlicht schon erschöpft. Es könnte jedoch auch mit Absicht gewesen sein, dass er seinen Kindern als Standbild der Strenge, der Regelkonformität und gar der Berechenbarkeit erhalten blieb. Mit welcher Verwunderung lauschte ich später den Geschichten, die vom „vorigen Leben” meines Vaters handelten. Alte Kumpel, Studienkollegen und Kameraden erzählten von einem Kerl, der für jeden Scherz zu haben war und sich oft gar selbst Streiche ausdachte und diese ausführte, sodass es beinahe schien, als würde er seine Zeit nur mit solchen Dingen verbringen, als arbeitete er daran, dass jene, die sich einst an ihn erinnern würden, ihn stets so sehen sollten: als jemanden, der verspielt und fröhlich ist und keine Angst vor Konsequenzen hat.

Meine Krankheit wurde später also nur noch als etwas erwähnt, das schon lange her war. Und mein inzwischen zur Normalität gewordener Zustand, wenn er auch etwa für meine Teilnahme an Hindernisläufen nicht förderlich war, unterschied sich in rein gar nichts mehr von jenem der anderen Burschen.

Die Geschichte meiner wundersamen Genesung, oder sagen wir, meines Entkommens, ist wahrlich märchenhaft. Mein Großvater, ein Apotheker, bat in seiner finalen Verzweiflung einen Kollegen in Budapest um Hilfe, da er kurz zuvor im medizinischen Fachmagazin „Orvosi Hetilap” von einer neuen ungarischen Arznei gelesen hatte, welche zur Vernichtung von derartigen Krankheitserregern, die auch an mir nagten, entwickelt worden war. Das Problem war nur, dass das Mittel noch nicht im Umlauf war; die letzte Testphase war noch im Gange, und obwohl die Versuche an Ratten und Mäusen vielversprechend verliefen, würde die Registrierung und endgültige Zulassung des den Namen Ceporin tragenden Medikaments noch ein bisschen Zeit brauchen.

Und genau diese eine Sache hatte ich nicht: Zeit.

Schließlich wurde der Plan gefasst, dass der liebe Bekannte meiner Taufpatin „unter der Hand” eine Dosis des Ceporins gibt, welche sie uns dann zukommen lässt, und dann würde man schon sehen. Noch schlimmer konnte das Mittel meine Situation ohnehin nicht mehr machen.

Meine Patin raste also zum Ostbahnhof in Budapest und drückte dem Lokführer des nach Pécs fahrenden Zuges die Ampulle in die Hand, die dann am Zielbahnhof erwartet und im Krankenhaus schließlich zügigst dem kleinen Patienten verabreicht wurde.

All dies, was ich selbst nur erzählt bekam, habe ich bereits so oft heraufbeschworen beziehungsweise zum Besten gegeben, dass es sich plötzlich sehr unwahrscheinlich anhört, um nicht zu sagen, fabelhaft langweilig.

Belassen wir es dabei, dass ich alles überlebt habe.

Diese Welt ist für mich zum Jenseits geworden. Zum Paradies, wo man allem Anschein nach für eine Weile mit meiner bescheidenen Beteiligung rechnet. Als ich zehn Jahre alt war und unser Hausastrologe, Herr Emil, ein Anwalt aus Košice, der sich selbst zum Astrologen umschulte, mir in Győr ein Horoskop erstellte, aus dem er herauslas, ich würde – bescheidene – hundertfünfzig Jahre lang leben, fand ich das vollkommen einleuchtend. Als hätte ich selbst schon in etwa damit gerechnet, und er hätte mir bloß meinen Glauben bekräftigt. Also im Allgemeinen messe ich an diesen hundertfünfzig Jahren all das, was noch vor mir liegt; oder hinter mir, ganz egal.

Als ich vier Jahre alt war, begannen jene Operationen, die dazu dienten, meine kreuz und quer stehenden kleinen Knochen irgendwie an ihren ursprünglich vorgesehenen Platz zurückzuhämmern. Dies ist buchstäblich zu verstehen, da im Zuge dieser blutigen Operationen an meinen Beinen herumgesägt, -gebohrt und –gemeißelt wurde, die Knochen wurden mit Platten und Schrauben fixiert, welche nach ein, zwei Jahren wieder entfernt wurden.

Diese Wege in den OP-Saal. Am Abend davor erfolgte der Einlauf, am Morgen bekam ich eine Betäubungsspritze, durch die ich meinem Schicksal mit großer Ruhe entgegenblicken sollte. Diese Morgen unterschieden sich von den anderen. Dem Anschein nach nahmen die Dinge ihren gewohnten Lauf, es kam Leben in die Krankenstation, es wurde geklappert, geschlurft, gelärmt, geweint, miteinander geredet. Doch ich war bloß noch ein Gast in dieser Szene. Einer, der physisch zwar noch anwesend ist, im Bettchen sitzt und äußerlich genauso aussieht wie am Abend zuvor, doch für den in einer anderen Station des Krankenhauses, hinter der geheimnisvollen, rot beschrifteten Flügeltür bereits der OP-Saal vorbereitet wird. Jener grün geflieste, mit glänzenden Chromoberflächen ausgestattete Saal, in den mir bald Einlass gewährt würde.

Als Essenz solcher Operationen habe ich zurückbehalten, dass zwei kräftige OP-Assistenten auf der Station erschienen. Damals noch nicht in grüner oder blauer, sondern in traditionell weißer Montur, mit kleinen Hauben auf dem Kopf. Sie scherzten stets herum. Sie nannten mich Haberer und Großer und versicherten mir, dass es ohne Probleme ablaufen würde. Dem hätte ich ein paar Stunden später widersprechen können, schließlich war der auf meinem Oberschenkel „entstandene”, mehrere Zentimeter lange Einschnitt, gelinde gesagt, ein bisschen mehr als ein alltägliches Problem.

Sie legten mich aufs Rollbett und deckten mich zu. Ich lag da, starrte an die Decke, und während sie mich schoben, breitete sich eine seltsame Leichtigkeit in mir aus.

Der Weg zum OP-Saal war sehr lang. Wir eilten durch Abschnitte, die ich von meinen Streifzügen kannte, durch den Flur, am Treppenhaus und an den Aufzügen vorbei, dann tat sich eine Flügeltür vor mir auf. Diese öffnete sich bereits zu einer anderen, unbekannten Welt, zum inneren Bündel, wo nur Auserwählte hineinkamen. Die Lichter, Stimmen, Gerüche – alles, alles dort war anders, als ich es von der Krankenstation mittlerweile gerade so gewohnt war. Auch wenn ich klein war und vermutlich noch über kein ausgeprägtes Zeitgefühl verfügte, spürte ich, dass mein Leben und die Ereignisse, deren Teil oder gar Protagonist ich sein würde, sich in ein „War” und ein „Wird sein” aufteilten. Und ich wusste auch, das „War” ist das, was jetzt ist, und wirklich wichtig ist das „Wird sein”, worüber man noch nichts wissen konnte. Doch wenn sie mich später von dort wieder hinausschieben würden, würde ich bereits in dieser „Wird sein”-Welt leben, und das wirklich Seltsame war, nicht die Welt würde sich verändert haben, sondern ich.

Das war das Versprechen, deshalb geschah das alles, das Starren an die mit Neonlichtern besetzte Decke, dass sie mich verändern wollten, also meine Beine, meinen Gang, damit dieser besser würde.

Das Rad des Rollbetts ruckelte beim Fahren, der Tanz des schiefen Rads war unter dem dünnen Laken deutlich zu spüren. Das watschelt auch ein wenig, siehe da, so ist es eben, aber es ist okay, das macht Perfektion schließlich nicht aus.

Die Gerüche auf der Station. Der Geruch von Wundbenzin. Sie reißen die Gaze runter, mein Bein kommt zum Vorschein, die Haut ist zusammengenäht, schwarz geronnenes Blut trocknet entlang der Wunde und an den hervorstehenden Nähten. Abends wird das alles gesäubert. Zuerst mit dem Benzin, dann mit Jod. Das Jod ist gelb und irritiert die Nase auf eine andere Art als das Benzin. Schließlich folgt eine klebrige Masse, worauf sie die frische Mullkompresse platzieren. Um ein Holzstäbchen gewickelte Watte. Sieht wie ein Zimbelschlägel aus. Nicht, dass ich damals schon gewusst hätte, was ein Zimbelschlägel ist, ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ich kannte nur das mit Watte umwickelte Holzstäbchen, das man in verschiedene Flüssigkeiten tunkt, um mich damit kreuz und quer einzuschmieren.

Der Herr Professor reißt bei der Visite die Gaze herunter und inspiziert die Wunde, berührt sie auch. Er hat pummelige, stämmige Finger, seine Nägel sind ganz kurz geschnitten. Er drückt ein bisschen auf der Wunde herum, dabei runzelt er die Stirn. Es ist eine ernste Sache.

Am Tag der professoralen Visite beginnt das Aufwischen schon in der Morgendämmerung. Der Boden wird mit einer scharf riechenden Aufwischflüssigkeit beschmiert.

Übrigens haben alle Angst vorm Herrn Professor.

Von der Wohnung in der Szamuely-Straße aus betrachtet war die Station im vierten Stock der Klinik mit 400 Betten fast schon so etwas wie ein zweites Zuhause; sie hat sich in mich als Ort eingeprägt, an dem immer Abend ist. Seltsam, dass dies stets der erste Gefühlseindruck ist, denn ich trage auch eine Vielzahl an Erinnerungen in mir, die sich tagsüber abspielen, und dennoch ist der Abend, beziehungsweise die Nacht, das wahre Gesicht dieses Lebensabschnitts, der mit kleineren Unterbrechungen zwei Jahre dauerte. Zu dieser Zeit war es fast schon angenehm dort. Das Leben war ruhiger, draußen leuchteten von unten die Straßenlaternen und die Fenster der benachbarten Häuser.

Eines Nachts starb jemand. Ich weiß nicht, wie so etwas auf einer Orthopädiestation vorkommen kann. Im Bett rechts von der Tür, das meinem genau gegenüberstand, lag ein etwas älteres Mädchen. Ich erinnere mich nur an sein dichtes, kastanienbraunes, krauses Haar. Es hatte seine Operation bereits hinter sich, aus seinem Bein ragten eiserne Drähte und Schienen.

Auf einmal begann die Kleine zu schreien. Menschen eilten zu ihr, immer mehr Menschen. Zusätzlich zur nächtlichen Beleuchtung wurde auch das Neonlicht über ihrem Bett eingeschaltet. Sonderbare, leise gehaltene Geräusche erfüllten die Station, in der sogar die benommenen Kleinkinder in ihren Betten spürten, dass etwas geschah, das mehr als nur ein merkwürdiger Traum war. Das kraushaarige Mädchen warf sich umher und röchelte. Ärzte und Krankenschwestern liefen eilig ein und aus. Sie brachten Sauerstoffflaschen, seltsame, zischende Laute drangen aus der erleuchteten Ecke. Dann wurde ein Paravent um das Bett aufgestellt. Ich weiß nicht, wie lange das Ganze dauerte, ob zwanzig Minuten oder stundenlang. Plötzlich kehrte eine tiefe Stille ein. Die Gerätschaften wurden hinausgeschoben, und nach einer Zeit wurde auch das über dem Bett leuchtende, blendend helle Neonlicht ausgeschaltet. Sie trugen sogar den Paravent davon.

Danach konnte man sehen, dass die kraushaarige Kleine genauso dalag wie zuvor, ihr operiertes, von Schienen gestütztes Bein ragte über der Bettfläche hoch in die Luft. Merkwürdig war nur, dass sie sich überhaupt nicht bewegte. Sie musste sehr tief schlafen, da man sie vollständig mit einem Laken zugedeckt hatte, nicht mal eine Haarsträhne lugte hervor. Die Station schwebte in der friedvollen, bläulichen Morgendämmerung, bloß vom Flur fiel Licht durch die offen gelassene Tür herein. Ich schlief ein, und als ich wiedererwachte, war das Bett des kraushaarigen Mädchens leer. Vollkommen leer, nicht einmal Bettwäsche war da, bloß die aneinandergelehnten, grau-weiß gestreiften, nackten Matratzen. Die alte Putzfrau kam wie jeden Morgen an und klapperte mit ihrem Blecheimer und Mopp. Sie wischte den grauen Kunststoffboden mit einem scharf riechenden Desinfektionsmittel auf.

Ein neuer Tag brach an, der fast genauso war wie der vorherige.

Author

Károly Méhes

KÁROLY MÉHES, Grundschule in Pécs und

 

Translator

Ágnes Nagy

 
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