Urban, Miloš

Der Prosaschriftsteller und Übersetzer Miloš Urban wurde am 4. Oktober 1967 in Sokolov geboren. Von 1975 bis 1979 lebte er in London, nach seiner Rückkehr besuchte er ein Gymnasium in Karlovy Vary und studierte am Institut für Anglistik und für Nordistik an der Karlsuniversität moderne Philologie. Von 1992 an arbeitete er als Redakteur des Verlags „Mladá fronta“, seit 2001 ist er im Verlag „Argo“ beschäftigt. Er übersetzte unter anderem Bücher von Julian Barnes und Isaac Bashevis Singer ins Tschechische. Er lebt in Prag.

Die Vorliebe für Mystifikationen verschiedenster Art ist für den postmodernen Prosaisten Miloš Urban mehr als charakteristisch. Daher verwundert es auch nicht, dass er seinen ersten Roman Poslední te?ka za Rukopisy (Der letzte Punkt hinter den Handschriften) nicht nur unter dem Pseudonym Josef Urban herausgab, sondern auch als dokumentarische Beschreibung der Suche nach den wahren Autoren der Königinhofer und Grünberger Handschrift konzipierte, zweier Fälschungen, die die tschechische Kultur des 19. Jahrhunderts wesentlich beeinflussten. Um seine Erzählung plausibler wirken zu lassen, bezeichnete er das Werk als „Neue Faktenliteratur“ – und täuschte mit seiner Mystifikation einerseits sogar eine Reihe von Lesern aus Intellektuellenkreisen, die seiner Darstellung absoluten Glauben schenkten, rief andererseits aber bei streng oder altmodisch denkenden Akademikern, die mit dem Erfindungsgeist der Postmoderne nichts anzufangen wußten, Verärgerung hervor. Diese „neue Faktenliteratur“ in Urbans Manier beruht in erster Linie in einer intelligenten Paraphrasierung oder Parodie sowohl von wissenschaftlichen Abhandlungen als auch von psychologischen Sonden in die Gegenwart – beziehungsweise in die Zeit nach 1989. Der Autor nützte im Geist eines postmodernen Spiels, in diesem Fall mit der Literaturgeschichte, geistreich ihre kombinatorischen Möglichkeiten aus und zog auch die Rezipienten seines Erstlingswerks mit hinein. Als einem suggestiven Mystifikator gelang es ihm nämlich (im Unterschied zu den weinerlichen Interpreten des Frauenschicksals der Autorin) einen psychosexuellen Schlüssel zu den ehelichen und außerehelichen Beziehungen der berühmten Božena N?mcová zu finden, außerdem mit Freud’schen Methoden das lebenslange Trauma der Magdalena Dobromila Rettigová (Verfasserin eines berühmten Kochbuchs mit Rezepten der Biedermeierzeit) zu „diagnostizieren“ und vor allem den Schleier des unkonventionellen Ehelebens des bombastischen Slawophilen Václav Hankas zu lüften, eines Mannes, der es beispielsweise fertig brachte, sogar den Meisterbrief eines Fleischers zu fälschen. Nicht als „neue Faktenliteratur“, sondern im Geiste von mit einem gotischen Gruselroman verbundenen Moritaten konzipierte Urban sein nächstes Buch Sedmikostelí (Sieben Kirchen). Er verknüpfte darin eine von schrecklichen Morden und Horrorvisionen überquellende abenteuerliche Handlung mit der postmodern gestimmten Ortsbeschreibung des alten (d.h. spätmittelalterlichen) Prags und mit einer bewußt zugespitzten Apologie des asketischen Katholizismus des 14. Jahrhunderts als moralischem Gegenstück zum Verfall der modernen Zivilisation: Die Gegenwart sieht der Autor nämlich als eine Zeit evidenter geistiger Stagnation und ethischer Orientierungslosigkeit. Von hier ist kein großer Schritt mehr zum Moralismus und zum Moralisieren – und genau als moralische Belehrungen klingen auch die beiden letzten Prosawerke Urbans aus, wobei der künstlerische Eindruck, den sie hinterlassen, nicht eindeutig ist und Urban sich in ihnen unterschiedlicher stilistischer Mittel bedient. So ist sein dritter Roman Hastrman (Der Wassermann) anfangs konzipiert als lyrisch gestimmte balladeske Prosa, die im „heidnischen“ Milieu des tschechischen Dorfes zu Beginn des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist, als die Menschen in der Welt der Natur angeblich noch nach uralten Bräuchen und mythischen Ritualen, keinesfalls aber mit dem neuzeitlichen Glauben an die Vernunft und mit ähnlichen Idealen der Aufklärung gelebt hätten. Dann jedoch wird die Handlung des Romans in die Gegenwart übertragen, aktuelle ökologische und gesellschaftliche Traumata geraten ins Zentrum, und Urban verwandelt seinen Text in ein blutrünstiges publizistisches Pamphlet. Danach wiederum kommt es zu einem Wechsel des Genres zu einer Quasiidylle, wenn nicht dörflichen Idylle, die sich in der allernächsten Zukunft abspielt. Nichtsdestotrotz wird der Hastrman vor allem in Hinblick auf das hohe stilistische Niveau der ersten Kapitel als eines der bemerkenswertesten Werke der neuen tschechischen Prosa bezeichnet. Als Moralität anderer Art kann man ein Buch ansehen, in welches Urban seine Vorstellungen von einem „politischen Roman“ der Gegenwart einbringen wollte, einem Genre also, das seiner Überzeugung nach in der tschechischen Literatur in sträflicher Weise fehlt. In der Prosa Pam?ti poslance parlamentu (Memoiren eines Parlamentsabgeordneten) orientierte sich der Autor an den Traditionen der britischen Politsatire, um dann eine postmoderne oder vielmehr zum Teil postmoderne Groteske über das Thema der Pyromanie und insbesondere über Pyromanen zu entspinnen, mit deren Zutun nicht nur das tschechische Parlament, ein Pfuhl von Leutchen nicht überragenden Geists und angekränkelter Sitten, sondern die gesamte verdorbene moderne Welt vom Erdboden verschwinden sollten, so nämlich stünde es schon in der Bibel geschrieben. Urbans Entwicklung von der psychologischen Reflexion der Gegenwart zu moralisierenden Mementos, die den Stil der Postmoderne ausnützen, ist in der tschechischen Prosa kein Einzelfall, doch steht fest, dass Miloš Urban eine deutliche Lust am Erzählen und die Fähigkeit, sich in vielen Genrebenen spontan zu bewegen, in die neue tschechische Belletristik gebracht hat. (vn)

Siehe auch

Personaldaten

Herr Urban, Miloš
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E-Mail: milos.urban@iargo.cz
Geburtsdatum: 1967-10-04
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