Uhren aus Blei

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Verlag: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publikationsdatum: 06.08.2021
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Land: Austria
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Uhren aus Blei

 

Prolog

Wanderer und Reisende in der ganzen Himmelsgegend 生

Der Reisebericht erscheint beschnitten, kastriert. Die Schriftstellerin hat das fatale Gefühl, als schriebe sie mit gefesselten Händen. Mit Bleigewichten an den Handgelenken. Sie schreibt über die Landschaft, über die Berge, über die tausendjährige Kultur, über Sommerpaläste, über die Verse des alten Chinas, über das Schalenporzellan, über den Elan, über die mühevolle Schönheit, die den Atem verschlägt, bis sie einen würgt und erstickt. Sie schreibt über buddhistische Tempel; das Ziel ist das Nirvana, das Verlöschen aller Sehnsüchte und aller Neuschöpfung und glücklicher Vernichtung; jede Gewalt wühlt die Oberfläche der Welt auf und verunreinigt das Karma. Sie schreibt über megalomanische Städte, über chinesische Gärten, über chinesisches Essen, über chinesische Kalligrafie, über Feinheiten und Beben, das ist witzig, das ist kurz, gespickt mit Fotografien, mit kleinen praktischen Ratschlägen, Detail für Detail. Sobald Sie aufgegessen haben, geben Sie dies bitte der Bedienung höflich dadurch zu verstehen, dass Sie beide Stäbchen schön waagerecht neben einander auf die Ränder des Schälchens legen. Sobald Sie Tee in Gesellschaft trinken, ist es höflich, zuerst den anderen die Tassen zu füllen, sobald Sie sehen, dass sie leer sind. Sobald Ihnen jemand Tee einschenkt, tippen Sie bitte leicht mit dem Zeigefinger und dem Mittelfinger auf den Tisch als Zeichen des Dankes. In der Stadt Lhasa sehen Sie sich vor der Höhenkrankheit vor; einige Hotels haben Sauerstoffbomben zur Verfügung.

Es bricht die Zeit der Abenteurer und Reisenden an. Sie werden die Welt aufs Neue entdecken, mit eigenen Augen und eigenen Ohren und eigener Seele, nicht wie ein Papagei nachplappern oder halb lügen. Geben Sie schließlich aufmerksam acht auf die täuschenden ersten Eindrücke. In China ist alles anders, als es der erste Eindruck vorgibt. Unentbehrlich ist der aufmerksame zweite und dritte und vierte Blick tief unter die Oberfläche. Existiert ein Zeichen Hun für die Seele, die zugleich mit dem Körper stirbt? Beim vierten Blick wenden Sie bitte nicht das Gesicht ab. China ist nicht nur das Bild der modernen Großstadt, wie die Städte Peking oder Schanghai und die ganze Provinz Kanton.  China, das sind einige Länder in einem einzigen Land. Jede dieser Provinzen hat wieder ihr Zentrum und ihre Peripherie mit elenden Verbindungen, zurückgebliebenen und armen Landbezirken und korrupten Machthabern; Armut und Reichtum lassen sich nicht verbergen. (S.13f.)

 

Mimoňs Schwester gibt nicht auf. Sie bekommt vom Patienten zwei Karten für den Prager Frühling; Mimoň lehnt ab. Sie ladet ihn in das Theater ein. Mimoň lehnt ab. Sie möchte mit ihm noch einmal reden; zum letzten Mal, wirklich. Im Kaffeehaus und dann im Restaurant „Sukus“ verpasste sie bei einem Kaffee mit Schlagobers eine Chance, den Kopf verstopft mit dem Kot und Lehm des ersten Mannes, der Mimoň so gerne gehabt hatte.

Mimoň lehnt das Treffen wiederholt mit der peinlichen Ausrede ab, dass er vor dem Abflug in die Stadt Peking eine Menge Dinge besorgen muss.  Mimoňs Schwester hat Angst. Wenn er abfährt, kann sie ihn nicht mehr zur Rede stellen und sie können sich nicht mehr näherkommen. Niemals. Der andere nahestehende Mensch, mit dem sie kein gemeinsames Wort findet. und dabei ist es egal, in welcher Sprache.

Der erste Ehemann war über zwanzig, als ihm ein unternehmerischer, reicher und kryptogamischer Herr Geld zur Gründung einer eigenen Firma anbot; die Firma ordnete er den entstehenden Tochterfirmen und Sohnfirmen zu. Der unternehmerische Herr gehörte nicht zu den Geldwechslern, und so kamen sie überein. Er gründete sie gemeinsam mit zwei Freunden; die Studenten der Informatik an der Hochschule für Ökonomie waren vom Computer besessen und alle lernten nur programmieren. Nach einige Jahren zerstritten sie sich; einer trennte sich, ging zu einer Auslandsfirma und macht eine steile Karriere; vor Jahren ging er von einer guten zu einer besseren und zu einer noch besseren, bis zur Stadt Peking, und jetzt trieb er Mimoňs Wohnung auf. Sie nannten ihn Programmierer.

Gutmütigkeit und Reichtum treten nur selten als Paar auf, und so wuchs sein Reichtum und seine Macht, eine Reihe von Freunden verschwanden; es blühte die Freunderlwirtschaft und das Bankkonto. Am Anfang arbeiteten alle zusammen und halfen sich gegenseitig. Sobald sie Geld verdienten, wendeten sie sich gegeneinander; auf einmal waren sie im Kurs, waren außerordentlich, sie konnten an eine gute Adresse ziehen, eine Kanzlei besitzen; all die Privilegien der Macht, zu denen früher die Leute erst nach einigen Jahren Arbeit kamen. Sie hatten riesige Macht, aber sie baten schon niemanden von den Freunden, dass sie mit ihnen arbeiteten; das war das Ende der fabelhaften Tage, als alle ringsherum herumbummelten, an den Einfällen und Projekten der anderen ebenso arbeiteten wie an den eigenen und dafür kein Geld wollten. Geld war das Lösungsmittel, welches das Gewebe des Jahres 1989 wie Säure zerfraß. 

Der Mann, an den sich die jungen Leute geheftet hatten, fing sie an der Angel mit einem einfachen Köder und alle verband der anständige Papa des Programmierers. Der Mann im Hintergrund war ein harter Spieler. Er hatte eine Lizenz für ein viermotoriges Flugzeug und besaß Learjet; es lag ihm daran, dass er keine Maschine hatte, in der man den Kopf einziehen muss; er wollte gehobenen Hauptes einsteigen; das war nicht mit breiter Brust gemeint, aber es war es war ein In-die-Brust-werfen.

Der frühere Stasimitarbeiter war so schlau, dass er niemals in den Vordergrund trat und hütete seine alte Position. Er hütet sie bis heute und in die privaten Flugzeuge trat er nur aufrecht. Im einundzwanzigsten Jahrhundert begann er sich mit den Millionen zu langweilen, er wurde in der Faulheit heimisch, so unterhält er sich mit Politik. Das ist das Spiel für gelangweilte Spieler; die Wetteinsätze sind hoch, wie wenn sie vor 1989 in Chuchle zusammenkamen und ihre schwarze Spielhalle führte der Musiktexter, der sich auch begann zwischen den Millionen zu langweilen und eines Tages aufwachte und einen Wachtraum hatte, dass er Präsident wird. Im einundzwanzigsten Jahrhundert kehrten die Modelle des rowdyhaften Verhaltens zurück und die Leute atmeten auf; an die Stasi-Sicherheit waren sie gewöhnt und ihre Sicherheit tauchte wieder auf, durch Geld. Sie wussten sehr gut, dass mit genügend Geld bei Gericht jeder Streit gewonnen werden kann, ebenso wie mit genügend Feuer jeder Schweinekopf gekocht werden kann.

Sie blieben die gleichen; sie setzten andere Masken auf, andere Uniformen, darin kennen sie sich gut aus. Die Generation kapitalistischer Unternehmer erzogen Unternehmungslustige aus der Zeit des Sozialismus. Sie warteten, bis sie innerhalb zweier Jahre nach der Samtenen Revolution die Naivlinge, die Idealisten, die Chartisten, die Säufer, die Bohemians, die als Abgeordnete bei ihrem Besuch der Stadt Washington erst das zweite Bier probierten, aus dem Weg räumen werden.

Warten, nein, besser gesagt, abwarten, können sie vorzüglich.

Die Edlen hörten auf wachsam zu sein.

Alle kehrten zu den Trögen zurück, richteten sich in der Prosperität ein, Mensch, ärgere dich nicht. Sie sahen sich vor praller Sonne vor, die rechte Hand schützten sie; nach der Rückkehr aus dem Urlaub ist es gut eine Hand auffallend nicht gebräunt zu haben, auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass sie Golf gespielt haben.

Sie schlabbern den alten bolschewistischen Brei. Es kochte ihn für Osteuropa Stalin und Meister Chronos seufzt. „Der kleine Mann richtete sich im Gegenteil in der Faulheit ein, nichts ist ihm schlecht genug, in Gegenwart eines edlen Mannes fühlt er sich hingegen fremd, er beginnt seine Unvollkommenheit zu bemänteln und seine Vollkommenheit herauszustellen.“

Doch war hier nur ein Wechsel. Alle teuren und auffallenden Dinge fielen dem ersten Ehemann zu als Erzeugnis höherer Welten.  Allmählich begeistern ihn nur mehr Dinge. Menschen waren unerwünscht, besonders die armen oder liebenswürdigen. Seine Unternehmergeneration der neunziger Jahre lernte Empfindlichkeit und Takt vorzutäuschen. Hierbei können sie nur ein unverschämtes Urteil fällen, so unverschämt, wie das Öffnen des Bieres mit goldenen Zähnen bei den Parteitagen.

Einen Eindruck machte auf sie niemals die Intelligenz, die geistige Arbeit, die Kunst. Sie hatten von nichts eine Ahnung.  Sie blieben ein Kind. Ein rächendes Kind. Ihr erster Ehemann beherrschte alle. Auch wenn sie ihm nicht gehorchten. Die einzige feste und emotionale Koalition schloss er mit seiner Mutter. Er nahm die Menschen um sich nicht wahr; er gab dem Gesindel, also Kellnern, Serviererinnen, Taxlern, und als er reich wurde, auch Hotellaufburschen und Zimmermädchen hohes Trinkgeld. Das tat ihm sehr gut. Er hielt es nicht aus, wenn seine erste Ehefrau entschuldigend lächelte, sobald er jemanden erniedrigte und beleidigte. Diese Leute wichen in gleicher Weise mit den Augen aus und fingen an zu schwitzen. Sie wollten kein Mitleid von ihr. Sie wollten nicht, dass man auf ihre Erniedrigung dadurch einging, dass man zu ihnen leutselig war, dass man etwas gut macht, was sich nicht wieder gut machen lässt. Sie baten inständig mit den Augen um seine Anerkennung. Sie übersahen sie hasserfüllt.

Er kannte eine bessere Art sich zu entschuldigen. Er delegierte die Schuld an andere. Er war der Typ eines Mannes, der es nicht ertrug, dass ihn irgendjemand in irgendetwas übertraf. Das wusste er allerdings nicht; er dachte von sich, dass er gerecht und großzügig sei, wenn er den Assistentinnen und den Burschen in der Kanzlei Kaugummi gab, den Menschen der Welt, die er unter Kontrolle hatte. 

Alle waren von der Kunst zu herrschen und der Sehnsucht, Millionär zu werden, besessen.

Große Dinge interessierten sie nichts besonders, aber in Kleinigkeiten hatten sie eine Krämerseele. Die Zeit ermöglichte ihnen das, aber die anderen waren ihnen im Wege. Denn jeder wollte Millionär sein. Die Gelegenheit beim Schopf packen. Jeder meinte, ein Außerordentlicher zu sein. Jeder drängte sich vor. Jeder wünschte sich ein Haus in dem architektonischen Brei der Vorstadt zu haben, einen Audi zu besitzen, in den Alpen Ski zu fahren, in perfekten Restaurants zu essen, wo der Chefkoch an den Tisch kam, um sich selbst persönlich zu erkundigen, alle wollten cool sein, wie sie früher Gemüsehändler, Tankwarte und Geldwechsler  gewesen waren. Die Elite des Volkes. Eine durch Generationen übermittelte Nachricht. Ein schönes Leben für sich selbst lässt sich unter jedem Regime einrichten. Sie waren hervorragende Fahrer, sie fuhren ohne eine einzige Haltestelle und steuerten gerne geradewegs ihr Ziel an.

Sie waren immer glücklich. Aber was kann man mit Leuten machen, die allemal, fast allemal, glücklich sind? Dauerndes Großtun, dauernd klopften sie sich auf die Schulter, zogen andere auf ihre Seite und disponierten um. In Wirklichkeit war das alles eine giftige große Firma, sie wurden hierhin und dorthin über die ganze Erde geschickt, denn sie überzeugten sich gegenseitig, dass sie kostbare Juwelen wären. Alle die Aufsichtsräte und Vollzugsausschüsse und Parteireibereien und Lobbisten und Teambuildings. Sie kultivierten den Chauvinismus, sie mussten zusammen sein, unsterblich, alle jung, super fit, voller Testosteron. Sie entdeckten die Dimension des Luxus, wobei sie von ihm nicht einmal geahnt hatten, dass sie sich nach ihm sehnten.

Sie begannen teure Kleidung zu tragen.

Und langsam vergaßen sie, dass auch billigere zu haben sind.

Die Zeit zensurierte das Vokabular und übergab den Jungen neue Wörter. Looser. Den Kindern wurde der Lebenslauf schon vom Kindergarten ab geplant, die Zielgrade waren Hochschulen in England und Amerika, Worte wie Harvard, Oxford, Cambridge lagen in der Luft und drängten sich auch in solche betrügerischen Aktien wie die Harvard Fonds; das Wort selbst brachte auf den Gedanken des Gefühls der Seriosität und Prosperität.

Die Worte schwarze Krähen.

Aber. Wer übernahm und wer konnte die Aufgabe, anders durch das Leben zu gehen, tragen? Der erste Ehemann lachte Mimoňs Schwester an, als sei sie mental gestört, als sie ihm einmal in einem schwachen Augenblick (aber nein, nein, das war ein starker Augenblick) sagte, wie glücklich sie sei, dass sich die besten und schönsten Dinge nicht kaufen lassen. Liebe, Freundschaft. Innerer Frieden. Harmonie. Glück, Wind, Wolken, Gras. Mein Gott, wie hat der gelacht.

 

Was wird aus dem Leben, wenn man mit dreißig alles erreicht hat?

Die Uhr zeigte diese Zeit.

In den Vordergrund drängt sich die Generation der Kinder. Und seine Generation, die Generation der Programmierer, weicht langsam in den Hintergrund. So wie auf dem Jangtse die hinteren Wellen die vorderen vor sich herschieben, so sollten die jungen Leute die Stellen der alten einnehmen. Die alten müssen zurücktreten, damit ihnen die aufgepeitschten Wellen nicht die Beine wegschlagen, dass sie nicht ihr Gleichgewicht verlieren. Wellen. Jagen unerwartet, wuchtig und wild ans Ufer. (S. 89-93)

 

Der Körper des Malers zeigt der amerikanischen Studentin und Schriftstellerin eine getuschte Landschaft, Zeichnungen von Bambus und Zwetschkenblüten auf Seide gemalt. Unendliche Reihen von Bambusstielen. Für einen Europäer ein Mangel an Originalität, für Einheimische ein Beweis der Ewigkeit: wer Bambus malen möchte, muss ihn im Herzen tragen. Wie für William Turner, der so gerne reiste, das weiche Sonnenlicht ein Beweis der Ewigkeit war; der Sonderling überließ niemals die übersehene Landschaft der Malerei, zurückgezogen beobachtete er schweigend die Launen des Lichts und des Wassers.

Die Ewigkeit des Menschen ist in seinem Geschlecht, in der Folge von Generation zu Genration. Bilder und Gedichte sind Teil der Natur. Sie sind über dem Schlamm der Tage erhaben. Sie sind geschieden von dem zufälligen Detail, wie das außergewöhnliche, übergeordnete Ich.  Warum nicht eine tausendfache Ausarbeitung eines vollendeten Themas anstelle einer verkrampften und unreifen Originalität von Fäkaldramen? Vollendung ist der Punkt und Vollendung kann man nur wiederholen. Sie schauen auf die getuschte Landschaft zu den Versen des Dichters Tu Fua.

Die Vögel fliegen schneller hin und her, hin.

Und ohne Unterschied fallen überall die Blätter,

fliegen und rascheln, drehen sich, zittern.

Unaufhörlich krümmt der ruhige Fluss seinen Rücken,

fließt her, fließt, fließt und fließt ab.

Der trübe Herbst streckt seine beiden Arme aus.

Ich war immer überall nur ein Gast.

Die Chinesen wiederholen ständig, dass ihre Poesie wie Seide sei, die in der chinesischen Malerei im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung verwendet wurde. Der Maler zeigt den Frauen Bilder: die älteste, archaische Rechenschrift. Die Kultschrift Lishu, die bei dem Einmeißeln von Aufschriften in Stein benutzt wurde. Am nächsten der modernen Schrift steht Kaishu. Die verbreitetste ist die Schnellschriftvariante Caoshu. Bild für Bild. Eine Galerie von Worten.

 Die Universität der Schriftstellerin ist das Atelier des Malers. Er will sie nach Wutaishan begleiten; er gehört zu den vier heiligen Bergen des Buddhismus. Sie lehnt die Begleitung ab. Der Maler fährt in die Berge zu buddhistischen Tempeln, um zu malen. Kluge Menschen erfreut Wasser, freundliche Menschen erfreuen Berge. Er saugt die frische, kalte Bergluft in sich auf und sagt, dass sie ein Lebenswecker ist. Am Himmel strahlt der Halbmond, der Fluss ist dunkel, ruhig und anmutig. Er nimmt seine vier Schätze der chinesischen Malerei mit: Pinsel, Tusche, ein Stein zum Zerreiben der Tusche, Papier oder Seide. Den Pinsel hat er selbst hergestellt nach der Beschreibung des ältesten überlieferten Pinsels aus dem vierten Jahrhundert vor der Zeitrechnung. Er ist aus kurzen Tierhaaren, an ein hohles Bambusrohr geklebt, die Tusche wurde aus Föhrenruß gemischt mit Klebstoff hergestellt und wurde zu der Form eines Stäbchens gehärtet. Das Stäbchen wurde mit Wasser auf einem Stück Schiefergestein zerrieben.

Die Schriftstellerin befeuchtet die Lippen und kühlt mit der Eisflasche die Stirn. Der Maler erschrickt; trinken darf man nur lauwarme Flüssigkeit oder noch besser; nur heißen Tee.

Die Schriftstellerin erzählt ihnen von dem Maler aus der Stadt Bologna. Giorgio Marand lebte in einem Wohnraum und sammelte auf dem Flohmarkt Gegenstände, die er auf dem Tisch arrangierte, an dem er auch aß. Schriftsteller sitzen auch am Tisch und sortieren die Worte. Das ganze Leben so ein Buch schreiben und es nur vereinfachen wie er das Bild; der Maler aus Bologna kam am Ende bei abstrakten Umrissen der Gegenstände an, die er das ganze Leben lang malte.

Die amerikanische Studentin ist ganz berauscht von der Persönlichkeit des Malers und steht hinter seinem Rücken.

„Du beschäftigst Dich schon weniger mit Kaligraphie.“

„Ja. Ich male jetzt getuschte Landschaftsmalereien. Es geht nicht, so viele Dinge auf einmal zu machen, wenn du es ordentlich machen willst.“

„Und was ist das?“

Die Schriftstellerin zeigt auf Buchseiten. Sie fragt, obwohl sie weiß. Er wirft der amerikanischen Studentin das Lasso zu, damit sie vor ihm glänzen kann.

„Kaiser, Dichter und Wissenschaftler hinterließen im Laufe der Jahrhunderte Beispiele ihrer Kaligraphie, die in Steinstelen eingemeißelt sind, an bedeutenden Naturplätzen, auf heiligen Bergen, in Höhlen, Tempeln und Grüften in ganz China, weil…“

Hinter den Fenstern fängt es heftig an zu regnen; die Schriftstellerin hört nicht zu und zieht sich zurück. Still verlässt sie das Atelier. Das Reisen hat sie nicht vom Schreiben entfernt. Das Schreiben reist ihr nach. Es ereilt sie überall auf diesem Erdball. Die Schnürl des Regens zwingen das Rückgrat aufzurichten. Unablässig erinnert sie sich und wiederholt auf ihrem langen Marsch, was ist das doch für ein mysteriöses und großartiges Land, wenn die Kaligraphie als Kriterium für die Auswahl hochgestellter staatlicher Beamter diente?

Am Abend nimmt sie die Kopie des ältesten gefundenen Pinsels in die Hand. Sie hat ihn im Atelier des Malers gestohlen.  Mit geschmeidigen Bewegungen schreibt sie das tschechische ABCD. Die Rolle setzt sie dem Regen aus. Das Wasser leckt ihn ab, die Tränen fließen. Sie haben einen Grund.

Mit einem farblosen Pinsel bei Regen auf das verlassene Pflaster zu schreiben. Solange kann sie hoffen. (S. 186-189)

 

Der Programmierer wälzte sich nicht auf das Sofa in die Umarmung des Schlafes wie sonst am späten Nachmittag; der schlammige Schlummer ist die Flucht vor dem leeren Leben, die Gravitation zur Liquidierung aller Konflikte. Er badet in den Schatten des Vergangenen. Die Schatten des Vergangenen sind nur die Schatten der eigenen Gedanken. Soll er nur schlafen, denn Stunden liegt er in der heißen Wanne. Diesmal nicht. Vor den Augen das Affengesicht des Chinesischen Mädchens. Die Vision verscheucht Er und kriecht ins Arbeitszimmer. Er verschließt die Tür vor aufdringlichen Fragen und seine Stimme schreit seine Frau an.

„Ich muss nur etwas zu Ende machen. Mir geht es gut.“

Dem unzensurierten Diplomatenübersetzer gibt er kopierte und gescannte Zeichen ein. Das wenige, das sich aus dem Text herausschält, reicht ihm. Immerhin verlässt er die Stadt Peking nur als Sieger und er wird das letzte Wort haben. Die Zeichen druckt er auf demselben Briefpapier, das die schmucklose Hand des Chinesischen Mädchens beschrieben hat. Die rote Tinte auf dem gelben Papier leuchtet.

Am nächsten Tag ist er als erster in der Arbeit und bemerkt Snoubenec nicht, der Ringe unter den Augen hat und olivgrüne Haut. Er wartet, bis das oberste Geschoss zum Mittag(essen) geht. Den an Snoubenec adressierten und mit Blättern gefüllten Umschlag legt er auf den Tisch des chinesischen Besitzers der Firma. Der Spitzenmanager mit einer verzweigten Familie investiert das Geld der ganzen Familie und herrscht nicht nur in der Provinz, wo er geboren ist. Auf dem weißen Umschlag und auf den gelben Blättern fehlen die Fingerabdrücke. 

„Am wichtigsten ist heute, dass die wirtschaftlichen Einheiten die Beziehung zum konkreten Menschen erhalten und erneuern, dass ihre Arbeit einen menschlichen Inhalt und Sinn habe, dass sie dem Menschen ermöglichen, in seine Unternehmenstätigkeit zu sehen, ihn anzusprechen und für sie einzustehen, damit sie – ich wiederhole – menschliche Dimensionen haben, nämlich dass in ihnen der Mensch als Mensch arbeitet, das heißt als Wesen mit Seele und Verantwortlichkeit, und nicht als Roboter, möge er primitiv oder hochintelligent sein. Diese ökonomisch schwer zu erfassenden Kennziffern halte ich für wichtiger als alle bisher bekannten ökonomischen Kennziffern.“

Am Rande dieses Blattes ist von dem Chinesischen Mädchen senkrecht dazugeschrieben. „Geliebter, damit du das richtig verstehst, es geht nicht nur um den Menschen als Arbeiter. Es geht um den allgemeinen Sinn der Arbeit selbst.“ 德 (375f.)

 

Apfelsine stoppt auf dem langen Marsch die Stille Post der Gebildeten. Die Menschheit braucht eine Transfusion, in ihrem Blut zirkulieren Viren des Antisemitismus und des Rassismus.

Der Nazismus hat nichts Neues entdeckt. Von Antisemitismus ist Europa seit Jahrhunderten durchtränkt. Das ist eine permanente Diskriminierung. Den von der Rasse her bedingten Antisemitismus dachten sich gebildete und intelligente Menschen des neunzehnten Jahrhunderts aus. Das war ein modischer Einfall der Eliten und mit ihren Dummheiten laufen die Menschen durch die Straßen der heutigen Städte, haben den Mund und die Augen voll damit, spucken sie in die Luft und haben sie unter der Haut. Das ist der Smog der europäischen Städte.

Die Stereotypen entstanden irgendwann und wie vieles verstecken sie sich in der Routine und in Ritualen. Gebildete Theologen bemühten sich fleißig um den Antijudaismus, dachten sich Legenden aus und verbreiteten sie im Mittelalter unter den Leuten, und wenn die Stadt nicht Ausschwitz erlebt hätte, dann würde der christlich motivierte Antisemitismus weiter wuchern. Jede Kirche ist notgedrungen gleich voreingenommen und undemokratisch. Das Katzenleben im Haushalt des Theologen, Predigers und Reformators Martin Luther, der einer von neun Kindern war und einen harten Vater hatte, war bescheiden, von Aufgaben gesegnet. Die einflussreiche Autorität des Mittelalters schrieb im Jahre 1543 die schöne Schrift „Von den Juden und iren Lügen“. Im sechzehnten Jahrhundert schlug ein Schmetterling mit dem Flügel, im zwanzigsten Jahrhundert platzten die Vasen, im einundzwanzigsten Jahrhundert schlurfen wir über die Scherben mit bloßen Füßen. Eine autoritäre Stimme spricht von der Vertreibung der Juden aus ihren Häusern, von dem Verbrennen von Büchern, von Arbeitslagern, wo sie endlich ihre Nasen herablassen und im Schweiße ihres Angesichts schuften werden, bis sie die Christen definitiv vertreiben. Zuerst bot der Theologe Luther den Juden einen Dialog an. Dann im Namen der Barmherzigkeit droht er nur mehr mit Gottes Zorn und schreibt die Schrift mit einem Vokabular, mit dem später die Wochenzeitung der „Stürmer“ im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben werden wird; im unteren Teil der Titelseite fett das Motto „Die Juden sind unser Unglück!

Apfelsine hatte Luther sehr gern. Sie fragte sich, warum plötzlich sein Körper so viel Aufsehen erregt? Weil sein Angebot in Wirklichkeit kein Angebot zu einem Dialog war? Die Bedingung war, dass sich die Juden anpassen; Luther las auch das Alte Testament wie ein Eigentümer. Mögen sie das Christentum zerstören oder Christen werden. Die Juden sind hartnäckig, wollen nicht ohne Vorbehalte seine Sicht akzeptieren. Was für eine religiöse Freiheit, das verletzte Ego ändert das Vokabular, die Hand schreibt den Brief. Was ist an Luthers Schrift für Apfelsine am bemerkenswertesten: schon hier ist sie kollektiv nicht nur gegen Juden gerichtet, sondern auch gegen die Roma. Die Roma bezeichnet er als Spione der Türken. Also als Spione der Muslime. Und jeder gerechter Christ muss Muslime hassen. Die Juden sind verstockt; darum bietet sich die Endlösung an, damit es ein für alle Mal klar sei, wer in Europa der Herr sei.

Die Synagogen anzünden, damit sie sich nirgendwo versammeln, verständigen, Weissagungen und heimliche Gaukeleien durchführen können. Gott sieht, dass sich die Christen nichts gefallen lassen. Die Christen sind Gottessöhne und lassen keine Lästerung zu.

Die Schulen zerstören, damit die Rabbiner keinen Ort haben, wo sie die Kinder beeinflussen können. Den Rabbinern verbieten zu unterrichten.

Ihre Häuser anzünden. Damit sie ohne Dach über dem Kopf bleiben und schmachvoll auf der Straße sitzen.

Die Ungläubigen um ihre Bücher bringen; die Bücher verbrennen.

Ihnen das Amt nehmen. Damit sie verkrochen in ihren Häusern bleiben und sich nicht in der Öffentlichkeit versammeln. Sie dürfen kein Geld besitzen und sich nicht mit Wucher beschäftigen. Thomas von Aquin hielt die Wucherei für eine Sünde, die bleischwer sei. Diese Passage hat Apfelsine besonders gern; Luthers Hand war so in Rage, dass sie sich widersprach. Schlug er doch vor ihre Häuser zu verbrennen.

Luther rät, dass den faulen und heimtückischen Parasiten und Wucherern, die eifrig an der Weltverschwörung arbeiten, Geräte in die Hand gegeben werden und sie bis zum Umfallen in „Arbeitslagern“ zum ewigen Ruhme Christi schuften lassen. Er empfiehlt „Zwangsarbeit“, damit sie etwas Nützliches machen.

Ach, wenn hier Mansur wäre, der sich denkt, dass zwischen den vier Meeren doch alle Menschen und lebenden Wesen Brüder sind. Apfelsine könnte ihn fein und ironisch angreifen. So gähnt sie nur und denkt, schade, dass Noe und seine Truppe nicht das Boot verpasst haben. (S. 565ff.)

Übersetzung © Stephan Teichgräber

Autor

Radka Denemarková

RADKA DENEMARKOVÁ (1968) ist eine tsc

 

Übersetzer

Stephan-Immanuel Teichgräber

Lebenslauf