Der Punkt über dem I

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Verlag: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publikationsdatum: 22. Juli 2021
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Land: Czech Republic
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Sylva Fischerová

Der Punkt über dem I

 

 

 

I. Institut für Physik

 

 

Man kam über die Weinbergstraße dorthin, die auch Einstein in den zwei Jahren, in denen er in Prag lebte, benutzt hatte. Zur Linken befand sich eine Mauer und zur Rechten ein Gebäude, in dem er zu dieser Zeit unterrichtete. Dann gab es das Spital bei St. Apollinaris, ein Backsteingebäude, das an einen Bahnhof erinnerte, an Großbritannien, die britischen Inseln im überhaupt, ständiger Regen, Regenmäntel, Windsor Castle, die Königin und die Grenadier-Garde. Dann reichte es, nur noch rechts abzubiegen und dort stand es: INSTITUT FÜR PHYSIK. Die Inschrift wurde in großen Buchstaben an der Fassade des Gebäudes ausgeführt und zeichnete sich durch eine Besonderheit aus: einen Punkt über I.

Der Punkt übte eine starke Gravitationskraft aus. Ich musste ihn jedes Mal ansehen, wenn ich vorbeiging. Vielleicht war er, schon als sie ihn in das Gebäude gemeißelt haben, ein Verstoß gegen die Rechtschreibregeln. Er mag nur allmählich zu einem Verstoß geworden sein - aber er war es jetzt. Ein Punkt über dem großen I, ein Fehler oder ein Symbol, aber wofür? Für die Unvollkommenheit des Universums? Und sein Bedürfnis nach Buchstäblichem oder nach Ornament? Oder war es einfach ein Trankopfer der Rebellion gegen die Regeln, eine grammatikalische Wolke für einen halbblinden, kurzsichtigen Myopen? Der Punkt könnte aber auch zufällig gewesen sein. Jemand hat ihn dort gemacht, weil er es gerade wollte. Mit der Welt könnte es genauso ausgesehen haben. Sie hätte anders gemacht werden können. Es musste keinen Erhaltungssatz oder eine der Konstanten wie die Lichtgeschwindigkeit geben. Oder die Eulersche Zahl. Warum könnte die Welt ohne die Eulersche Zahl nicht existieren? Mich würde das nicht stören. Und könnte sie dann auch ohne einen Punkt überm I existieren?

Das Innere des Gebäudes enthielt nichts so Beunruhigendes wie den Punkt über dem I. Es war gefüllt mit Hörsälen, Korridoren, kleineren Seminarräumen, Kabinetten und Labors, die mit einfachen Instrumenten und einen Satz von Hilfsmitteln ausgestattet waren, von denen mich nur diejenigen berührt haben, die wir letztes Jahr in der Mechanik besprochen hatten. Das Beobachten eines Kügelchens auf einer schiefen Ebene war zwar primitiv, lieferte aber garantierte Ergebnisse. Der Stoß der Kugel hatte auch etwas in sich. Das Verhalten der Spiralfedern war geradezu amüsant. Das Beste waren jedoch die Schwungräder: Körper, die an Becken einer Musikkappelle erinnerten, überdies glänzende, die in den Strahlen der Frühlingssonne golden schimmerten. Als der Vortragende sie in Bewegung setzte, konnten sie nicht aufhören. Sie drehten sich immerfort ringsherum in einer perfekten Kreisbewegung, die für die Griechen die einzig mögliche Bewegungsart für Gott war. Das gesamte Auditorium war still und starrte fasziniert auf die goldenen Kreise, die sich unermüdlich wie ein Glücksrad in der Nachmittagssonne drehten, solange nicht die Zeit und die Luftmaterie über die Universalität des Bewegungsgesetzes triumphierten und durch Reibung, der dümmste und banalste Faktor, diese träge goldene Pracht stoppten.

Aber die Ära der Mechanik ist vorbei. In diesem Jahr diskutierten wir über Elektrizität und Magnetismus, und die Reise in die Tiefen der Materie war viel härter als der goldene Tanz der Schwungräder. Es war unmöglich, in die Tiefen der Materie zu sehen - und so tauchten uns die Lehrer zwischen Elektronen und Protonen und Anionen und Kationen ein, die man uns verbot, sie sich als kleine springende Wesen mit lächerlichen Augen vorzustellen, obwohl sie uns einfach so erschienen: als ideale Vorlagen für Comics. Eine Katze, die ihre Maus sowieso niemals fängt.

"Also heute", sagte der Pädagoge, ein kleiner Mann mit silbernen Haaren und einer silbernen Aussprache, ganz hyperkorrekt wie ein physikalisches Register, "werden wir uns dem elektrischen Feld widmen. - Wir werden von einem Phänomen ausgehen, das etwas völlig Unvorstellbares darstellte, bis es entdeckt und beschrieben wurde. Weil die Beschreibung eines Phänomens - und dies muss man sich bewusst machen - ein wesentlicher Bestandteil des Phänomens ist. Ein Phänomen, das man physikalisch nicht beschreiben kann, nämlich - “

Ich hörte auf zuzuhören. Die Beschreibung ist ein wesentlicher Bestandteil des Phänomens. Aber wie beschreiben wir das Phänomen der Beschreibung? Wie beschreiben wir das Phänomen der Beschreibung des Phänomens einer abgeschabten braunen Schulbank, in die jemand eine … eingeritzt hat –

Ich zuckte zusammen. Im Auditorium herrschte Stille. Das Register, rot wie Turnhosen, hielt Kreide in seiner erhobenen Hand fest und zielte irgendwohin zwei Reihen vor mir.

"Ihr Ignoranten, ihr Analphabeten, denkt ihr, dass hier der Ort für Witze ist?

Aber all dies repräsentiert die unzerstörbare, invariante Ordnung der Welt! Und was ich hier an die Tafel zeichne, ist eine Sprache, die viel besser ist als die, mit der Sie gerade miteinander sprachen." Er musste Luft holen. "So hören Sie zu. Jetzt erzähle ich Ihnen einen Witz. Über Dr. Thomson.“ Er sah uns verächtlich an. "Ich nehme nicht an, dass Sie wissen, wer Dr. Thomson war."

Das Auditorium war still.

"Lord - Kelvin", sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. "derjenige, nach dem die Temperatur gemessen wird. Aber wenn sie ihn - wie Dr. Thomson - einmal fragen: Was wäre, wenn die Kirche Ihnen sagen würde, dass zwei und zwei zehn ist? Er antwortete: Ich würde es glauben und wie folgt zählen: eins, zwei, drei, zehn. Cha-Cha-Cha Cha! Und ich zähle auch eins, zwei, drei, zehn! Verstehen Sie, dass man nicht anders zählen kann? Eins - zwei - drei - zehn - "

Er sprang bei jeder Zehn um einen Dezimeter höher.

"Eins - zwei - drei - zehn!"

Bei der vierten (also zehnten) ZEHN griff ich nach meiner Tasche und verschwand.

 

II. Die richtige Zahl für jede Sache

 

Unsere ganzen Erwägungen sind nichts anderes als ein Verbinden und Ersetzen von Zeichen, damit sind diese Zeichen Worte, Symbole oder Bilder. Wenn wir Zeichen und Symbole finden könnten, die alle unsere Gedanken ebenso definitiv und genau ausdrückten, wie die Arithmetik Zahlen oder die Geometrie Geraden ausdrückt, könnten wir in allen Fächern, die auf Erwägungen gegründet sind, das erreichen, was in der Arithmetik und der Geometrie geschieht. Alles Sparen, das von dem Erwägen abhängt, würde nämlich von einer Transposition und einem gewissen Kalkül gemacht. Und sofern vielleicht jemand meine Ergebnisse in Zweifel stellen würde, würde ich ihm sagen: „Rechnen wir, mein Herr,“ und mit Hilfe von Feder und Tinte würden wir schnell die Frage lösen.

Für jede wichtige Sache existiert nämlich eine charakteristische Zahl, und es reicht so diese charakteristische Zahl für die grundlegenden Gedanken zu bestimmen; sobald das die Menschheit macht, wird es erledigt sein. Ich glaube, dass einige auserwählte Leute im Laufe von zwei Jahren Lebensdoktrinen vorlegen können, also Metaphysiken und Normen des Verhaltens, in einem unumstößlichen Kalkül.

 

III. Uterus

 

„Schau, und kennst du den? Die Funktionen sitzen im Gasthaus und saufen. In dem Moment öffnet sich die Tür –

„Ja, und es kommt dort e zu x, blöd bis zum Gehtnichtmehr, nur dass sie es von y ableiten. Das hat einen Bart wie zehn Methusalems.“

"Na gut. Also kommt ein Neutrino in die Bar. -“

"Zwanzig Methusalems. Methusalem ist eine Einheit der Abgedroschenheit von Witzen. Der Barkeeper sagt, wir schenken Neutrinos nichts ein, das Neutrino sagt, dass es nur vorbeischaut. Ha, ha, ha. "

„Hey, scheiß nicht. Und was ist mit dem? Unzählig viele Mathematiker kommen in die Bar. Kennst du den?“

„Den kenne ich, glaube ich, nicht. Es ist zwar klar, wie es ausgeht, aber probiere es!“

„Dann also. Unzählig viele Mathematiker kommen in die Bar. Der erste bestellt sich ein Bier. Der zweite bestellte sich ein halbes Bier. Der dritte ein Viertel Bier. Der Barkeeper antwortet -“

„Ja, klar. Ich kenne euren Limes (Grenzwert), und zapft ihnen zwei Bier ab. Ich weiß nicht, warum sich niemand etwas wirklich Neues einfallen lässt. Auf diese Weise müssen wir die Schrödinger-Einheit einführen, um Nullen zu sparen. Ein Schrödinger entspricht hundert Methusalems."

"Vorsicht, Zděny, ein Fehler im System. Schrödinger hatte keinen Bart."

Darauf freilich Zděny, ein groß geratener blonder Mann, schnipst mit den Fingern: "Systemirrelevant, Eldé, seine Katze hatte einen."

Ha, ha, ha, Lachen, das Wirtshaus „Uterus“ platzt aus den Nähten. Wer nannte es Uterus, also Gebärmutter? Die Mediziner in der Nähe kommen nicht mehr hierher, das Beisl wird von Studenten der Mathematik, Physik und Naturwissenschaften dominiert. Die gewachsten karierten Tischdecken sind mit Bier übergossen, der Boden ist schmutzig und bespuckt, die Aschenbecher laufen über und die Toiletten stinken bis zum Flur vor dem Eingang. Die definierende Einheit des ganzen Wirtshauses ist die Einheit der Verrauchtheit des Raumes.

Die Tür öffnet sich und lässt ein wenig Luft mit Nebel herein, es ist November, es war Allerseelen, die Friedhöfe sind immer noch voller Kerzen, ihr Licht steigt nach oben und erzeugt eine gelbliche Dunstglocke über der Stadt. Ein junger Mann in einem Ledermantel und einem schwarzen Hut kommt herein.

"Und sieh mal, Jindřich! Er wird uns einen erzählen, den wir nicht kennen."

„Welchen soll ich erzählen?“ Jindřich nimmt seinen Hut ab, Zděny und Eldé machen ihm neben sich am Tisch Platz.

"Nun, einen neuen, nicht durchgekauten Witz.“

„Ach so,“ Jindřich zieht seinen Mantel aus, „wie Tachyonen in der Bar? Ich hoffe, Ihr verdächtigt mich dessen nicht, Burschen. Ihr werdet etwas ganz anderes von mir hören! Meine funkelnagelneue epochale Entdeckung. Darauf muss man natürlich anstoßen."

Jindřich vertreibt den Rauch und winkt dem Pingel: „Herr Ober! Herr Ober! Viermal Pfeffi.“

"Ich habe es schon herausgefunden. Ich habe es verstanden, meine Herren! Weder Physik noch Metaphysik noch Pataphysik, obwohl wir sie lieben. Nichts dergleichen. Stattdessen gibt es KATAPHYSIK! “

Die Tischgesellschaft sieht ihn an wie ein Neutrino, das an einer Bar trinkt. Ha! Neutrino Jindřich trinkt an der Bar.

"Das kann einfach keine Physik sein, das wissen wir alle, die wir hier sitzen. Die Metaphysik nimmt sich zu ernst und die Pataphysik nimmt sich zu wenig ernst. An ihrer Stelle haben wir also KATAPhysik, die erst zeigt, was die Welt ist und wofür wir eigentlich stehen. Wenn also etwas KATA ist, ist es fast alles. Diese Präposition und dieses Präfix ist Abbild der Welt. Und dann, wer sagt, dass die Präpositionen nicht wichtig sind!" sagt Neutrino Jindřich in Rage und leitet von KATA ab. "Die Kataphysik, die KATA ist, geht einfach zur Physik – aber sie ist auch über die Physik - das heißt, sie geht gleichzeitig an ihr entlang und durch sie hindurch und rutscht auch wie ein Bügeleisen durch den Schnee - aber sie geht auch gerade und hart gegen sie vor! Das ist Kataphysik! Dies sind ihre Kategorien oder ihre Anschuldigungen, mit denen sie immerwährend die Welt und das Sein beschuldigt!“ Eine Pause zum Luftholen, es geht ins Finale. "Am Ende gibt es logischerweise KAT (einen Henker) und die Physik - der Henker, der sie als Physik hinrichtet - doch er ist auch der Henker, den sie hinrichtet, um mit ihm Kataphysik zu werden!"

„Jindřich, du Ochse, du bist wirklich ein Trottel.“ Eldé zündet sich einen Tschick an, er pafft starke Sparta, sie sind besser als die leichten.

"Woher hast du das, das mit diesen Präpositionen? Mit diesem KATA?“ Zděny bohrt wieder in den Sachen, er bohrt immer, er ist ein Bohrer.

"Aus dem Wörterbuch, Zděny. Es gibt - rein unter uns - solide dicke Wörterbücher, in denen solche Dinge erklärt werden. Wenn also jemand lesen kann, kann er sie lesen. Und dann daraus Schlussfolgerungen ziehen."

Und der Pfeffi wird schon gebracht, die vier grünen Stamperln tanzen auf einem Tablett und der total rauchige Raum der Gebärmutter wird aufleuchten.

"Also, diese grüne -" Jindřich hebt sein halbes Deci gegen das Licht wie der Pfarrer die Hostie, "diese durchscheinende hellgrüne und dunkelgrüne Flüssigkeit - und nur die perfekte Zweieinigkeit ihrer Farbe ist ein Beweis dafür - ist ein wahres kataphysisches Getränk! Es ist nicht nur weder hell noch dunkel, sondern wirft auch goldene Reflexe! Und obwohl es dicht und fast fleischig ist, kann die ganze GRÜNE Welt durch sie hindurchgesehen werden. Und jetzt alle - Prosit! “Die ganze Tischgesellschaft hebt ihre Decis in die Höhe und starrt durch das Grün auf die grüne Welt. "Aber das ist nicht alles", fährt Jindřich fort, "nur mit seinem Pfefferminzduft wird dieses Getränk euch um einen Stock höher heben -" Die Tischgesellschaft, die zehn Zahlen schweben über dem bespuckten Boden, riecht am Glas, "und wenn wir schon ein Stockwerk höher sind, dann stoßen wir dort ein Saugrüssel hinein! Und das buchstäblich! Dies ist der Trank der Bienenkönigin! Aber wir werden es auch den Arbeitsbienen und Drohnen geben, ha, ha. Und dann rutscht das köstliche Getränk in die Eingeweide, wo wir, wenn wir dort hineinsehen könnten, auf eine Dusche und Säuberung starren, die dort vor sich geht – so ein grüner Bžum-bžum-Springbrunnen.“

Und wir alle stecken den Saugrüssel in den Trank für die Bienenkönigin, ich auch, auch ich gehöre nämlich zur Tischgesellschaft, da wird mir auch ein Viertel kataphysisches Grün gebracht, da gefällt mir Jindřich, sein Hut und sein Mantel, aber auch Zděny, seine blauen Augen und blonden Haare, er geht angeblich mit einer Tänzerin der Alhambra-Bar, aber niemand von uns hat sie jemals gesehen. Eldé ist allzu sehr ein Kasper, mit Bullenaugen und einem Krötenmaul, ach wo Eldé, aber Jindřich hat einen Vater in Österreich, in Wien, sie erlaubten ihm auszureisen, legal. Jindřich war schon dreimal bei ihm und brachte dicke Hader mit, die er jetzt trägt und die wir ihm gerne abkaufen, ebenso wie die Kataphysik und kataphysische Liköre. Wenngleich niemand weiß, wie man das verstehen soll, da sticht mich etwas, bzz bzz, vielleicht eine Drohne, frage ich ihn:

„Jindřich, aber was soll der Punkt über dem I?

„Wie, was soll der Punkt über dem I? Du meinst die zwei Punkte über dem I im Pfefferminzlikör?“

„Aber nein, ich meine den Punkt über dem großen I in unserem ruhmreichen Institut für Physik – der ist auch kataphysikalisch?“

„Der ist selbstverständlich ganz kataphysikalisch! Es tritt nämlich zum Punkt über dem I auch in der Kataphysik selbst hinzu – wenn es sich also endlich nicht um denselben Punkt handelt! Was aber auf keinem Fall für das Institut gilt, denn wenn etwas nicht existieren kann, dann ist es ein kataphysikalisches Institut! Ein kataphysikalisches Institut ist nämlich – Herr Ober, noch einmal vier Grüne – ein kataphysikalisches Institut ist eine contradictio in adiecto! Etwas, was auf der Welt überhaupt nicht existieren kann. Dafür ist der Punkt über dem großen I ––“ und Jindřich schaute mich an, als sei ich sein Weihnachtsgeschenk, „ein königlicher Schmuck – ist das die Brosche und die Königin Kataphysik, wo auch der Henker den Kürzeren zieht!“

 

 

IV. Die Nummer 1729

 

Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal besuchte, als er in Putney krank war (lag). Ich fuhr mit dem Taxi Nummer 1729 und bemerkte, dass mir die Zahl ziemlich langweilig vorkommt und dass ich hoffe, dass das kein schlechtes Vorzeichen ist. Nein, antwortete er, das ist eine sehr interessante Zahl. Das ist die kleinste als Summe zweier dritter Potenzen auf zwei verschiedene Arten ausdrückbare Zahl. (Das ist die kleinste Zahl, die als Summe zwei verschiedene Arten zweier dritter Potenzen ausdrücken kann.)

 

 

V. Mantel, Flosse, Hut

 

„Aber wenn jede Sache ihre charakteristische Zahl hat, wie es Leibnitz wollte, einfach restlos jede, dann müsste aber auch jede Sache ihre Eulersche Zahl haben, nicht?“

„Du Ochse, was redest du für einen Schmarrn?“ Eine Flasche Wein, im Wirtshaus über die Gasse gekauft, steht auf den Fliesen über plätscherndem Wasser, Jindřich nimmt einen Schluck.

„Na nein, hier ist einfach ein gewisses Problem, nicht? Wie zum Beispiel diese viel zu teure Flasche ihre charakteristische Nummer haben muss.“ Ich proste ihm auch zu. „Oder die Moldau. Die muss auch ihre charakteristische Zahl haben. Also – als weiterer notwendiger Schritt – jede Sache, die ihre charakteristische Nummer hat, sollte auch ihre Eulersche Zahl haben, nicht?“ Jindřich greift in seine Manteltasche und holt eine Schachtel heraus. "Nimm dir schon, bitte", das sind Mozartkugeln, ich habe sie nur im Fenster gesehen. "Ja, du warst wieder in Wien, die lass ich mir schmecken, und wie war es dort?“ Ich wickle die Kugel aus der Alufolie, und im Inneren ist alles geschichtet, gut durchdacht, geologisch fein geschichtet. Ich untersuche die einzelnen Schichten und nehme ein weiteres Stück, es dauert eine Weile.

"In Wien ist es immer ekelhaft, ganz Wien ist eine abstoßende kaiserliche Hofburg, gemacht wie ein weißer Lipizzaner Arsch, der dir mit der Scheiße, die von ihm fällt, ins Gesicht gedrückt wird. Was ist dagegen das zusammengeklebte Meisterstück der Prager Burg dort am Fluss!" Jindřich winkt rechts zum Wasser, es ist neblig, nur der Allerseelennebel hängt über der Stadt. "Die einzige lebendige Sache in Wien ist die Kapuzinergruft. Eigentlich sollte man ganz Wien in die Kapuzinergruft stopfen, neben Franz Joseph, wo es hingehört. Iss das alles ruhig auf, iss Mozart alle seine Kugeln weg. Du warst noch nie dort?

"Nein, niemals, wir waren erst in den Alpen an den Seen, als ich klein war, dann habe ich jahrelang von ihnen geträumt", ich nehme mir einen Tschick heraus, „aber schau, früher hast du nicht so geredet, da war die Albertina hier und der heilige Stephansdom dort, und wie die Österreicher arbeiten können, im Gegensatz zu den Tschechen, und ihre Würstchen, spinn nicht.“

Jindřich schaut auf den Fluss, das andere Ufer ist nicht sichtbar, nur trübe Lichter, nur die Brauerei von Smíchov kann genau gerochen werden.
"Das sieht alles nur so aus. Der Steffel ist nett, aber tatsächlich gehört er auch in die Kapuzinergruft. Ganz Wien ist eine einzige schöne Leich‘.“

"Hm. Aber deinem Vater geht es gut in der Leich‘, nehme ich an."

Eine Pause, nicht lange, aber genug, um in die Gruft zu treten und sich auf den Sarkophag von Kaiserin Sissi zu konzentrieren, die unglücklicherweise am Ufer des Genfersees von einem anarchistischen Dolch ermordet wurde, "Fotr (Vater) hat mir stolz mitgeteilt, dass er gerade aufgehört hat, mit dem tschechoslowakischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten, so haben sie mich seitdem nicht mehr zu ihm gelassen."

„Was?" Franz Jozefs Schnurrbart bleibt bewegungslos, und wenn sich die Lipizzaner bewegen, wird es eine feierliche Parade geben, sie werden öffentlich ihre edlen weißen Ärsche drehen, "Aus dem Vater kroch heraus, dass er die ganzen drei Jahre lang als Spitzel alle denunziert hatte. Sowohl Kohout, als auch Landovský, einfach die ganze Emigrantentruppe. Er war furchtbar stolz, es beendet zu haben. Ich konnte nicht mehr hierherkommen, Jiri -" Jindřich Junior ahmt die Stimme von Jindřich Senior nach. "Ich konnte mich nicht einmal im Spiegel ansehen - ich habe seitdem auch nicht mehr in den Spiegel geschaut. Habe ich noch eine Nase? Ist sie mir nicht abgefallen?“

Jindřich dreht sich zu mir, er hat eine Nase und beide Augen sind zwei Augen eines gefolterten Bullenkalbes. "Warte, aber du bist nicht schuld, du bist nicht schuld für das, was dein Vater tut, das ist eine Dummheit."

Die Flasche ist wieder etwas leerer. "Ich hätte es herausfinden sollen. Ich hätte wissen müssen, dass diese Schweine nur etwas für etwas geben. Mama sagte, es sei wahrscheinlich nicht ganz billig, aber ich habe ihr nicht geglaubt. Ich wollte nicht glauben, dass ich nur zur Universität kam, weil Fotr mit ihnen ein Geschäft gemacht hat.

"Hat er dir das gesagt? Dass er sich mit ihnen arrangiert hat?“
"Ja, er war stolz darauf, sich um seinen Sohn zu kümmern. Ich scheiße auf diese beschissene Universität! Ich scheiße auf das ganze beschissene Institut für Physik! “

Aber Kaiserin Sissi ist hier in der Kapuzinergruft nicht vollständig, das Beuschel hat sie im Stephansdom und das Herz bei den Augustinern, die ganze königliche Familie hat ihre Körper geteilt, niemand ist vollständig, und Jindřich nimmt seinen Hut ab und brüllt, schrie auf die neblige Wasseroberfläche: "Dieser Hut hat nicht einmal seine charakteristische Zahl! Ganz zu schweigen von einer Eulerschen Zahl!“ Und er wirft seinen Hut in die Moldau.

"Und dieser Mantel hat auch keine Zahl - er ist nicht echt - er ist überhaupt nichts -"

Jindřich steht auf und wirft seinen coolen Ledermantel, der bis zu den Fersen geht, in die Moldau, glucks, glucks, ich werfe alle restlichen Mozartkugeln hinter dem Mantel her.

"Also ist jede Kataphysik nur ein Produkt deines verzweifelten Gehirns, willst du sagen?" Ich bin traurig und mir ist zum Weinen, meine charakteristische Zahl ist minus zehn.

"Die Kataphysik ist die einzige echte Sache auf der Welt!", ruft Jindřich nur noch im schwarzen Pullover.

"Alles Leben ist nämlich ein Fahren auf Flossen - unser ganzes Leben gleiten wir nur auf Flossen herab - und das ist Kataphysik! Die Moldau hier unter uns ist völlig kataphysikalisch! Húm hom, komm zu mir, Eulersche Zahl!" und Jindřich wirft sich ohne Hut und ohne Mantel in den Novemberfluss, ich muss ihn herausziehen, mühsam, es geht mir überhaupt nicht von der Hand, dann wickle ich ihn in meinen blöden grünen Hubertus und für das letzte Geld lade ich ihn und mich in den Punkt über dem I im ersten Wagen des Taxidienstes, der hierher im Allerseelendunst über das Prager Pflaster, die Prager Flossen rumpelt, húm hom.

 

Übersetzung: Stephan-Immanuel Teichgräber

Diese Erzählung stammt aus dem Band "Tisíce plošin" [Tausende Plateaus]. Druhé město Brno 2020

Autor

Sylva Fischerová

SYLVA FISCHEROVÁ, geboren 1963 in Pra

 

Übersetzer

Stephan-Immanuel Teichgräber

Lebenslauf

 
Tečka nad i