Auszug aus "Herz"

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Verlag: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publikationsdatum: 06.08.2021
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Land: Austria
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Herz
(Auszug)

 

 „Weißt du,“ teilte Ivan mit gespielter Strenge mit und ließ den Hund zuerst loslaufen.

Er kümmerte sich nicht darum, wohin er ging. Hauptsache, er geht und muss nichts entscheiden. Kaum dass Cody auf die Hauptstraße gekommen war, trabte er auf ihr eine Weile probeweise und danach drehte er sich um und ging über Wiese zu dem ehemaligen Pionierlager. Das alte Gebäude, das durch verschiedene Zubauten und Ankleber verjüngt war, trug jetzt die großartige Bezeichnung „Relax resort“. Es war immer ein Erholungsheim, auch diese Kinder aus der Ukraine kamen hier her, um sich u erholen, nicht um Pioniergelöbnisse abzulegen, aber trotzdem hatte sich etwas verändert. Zuvor besangen ihre rhythmischen Gassenhauer den sozialistischen Aufbau, heute zeugen sie vom Wohlwollen des globalen Kapitalismus. Ivan dachte nach, wie schon viele Male, er kannte das wie ein Schwein, Kontext zu sein. Ein usurpatorischer und autoritärer.  Auch diese banalsten Kinderfreudenfeste konnte man sich aneignen und durch Bedeutung, von der niemand nicht einmal träumte, vergewaltigen. Mein Gott, er konnte sich vielleicht nicht aus seinem Laborieren befreien. Er wollte sich dennoch auslüften, ausschalten, warum wühlte er schon wieder darin. Wo ist, Kruzitürk, dieser Hund? Cody, als ob er seinen Gedanken gehört hatte, bellte vom spitzen Terrassenufer über der verschlammten Straße. Dieses Tier bringt mich um, dachte Ivan in Gedanken, als er folgsam hinter ihm herkletterte.

                Das sollte nicht sein. Der Arzt hatte es ihm ausdrücklich verboten. Mindestens solange sie nicht genau feststellen, was damals mit seinem Herzen geschah. Er hatte immer von sich gesagt, dass er, wenn er einmal dieses peinliche Verbot an Genüssen anhören müsste, auch dann nicht darauf hören würde.  Jedoch wenn das Leben des Menschen infrage steht und sein Herz plötzlich wie toll weg rast, kirre wird. Die Zigaretten hatte er auf drei pro Tag beschränkt, Kaffee hatte er durch koffeinfreie Pantsche ersetzt und physische Anstrengung… Außer Spaziergängen mit Cody drohte ihm keine ernstere.  Dem Sport hatte er niemals gehuldigt, und dieses wenige Erglühen, das er sich mit Milena manchmal gönnte, verschmerzte er ohne Probleme. Auch so hatten sie jetzt nicht die beste Zeit. Das war nichts ernstes, sondern nur gängige Ermüdung des Materials. Jeder tauchte in seine Routine ein und bemühte sich für den anderen unsichtbar zu sein. Dazu, dass er für sich brüllte „Verschwinde!“, gab es keinen Grund mehr, aber auch so versuchten sie diesen nicht ausgesprochenen Befehl aufs schärfste einzuhalten. Er verschwand am Zweitwohnsitz mit seiner Übersetzung und sie löste sich im Chor der Slowakischen Philharmonie auf.

            Er bewunderte Cody, wie elastisch er durch das dichte Brombeergesträuch schwamm. Er drängte sich ihm nach wie eine Rodungsmaschine, die auch in Zeiten von sophisticated Software mehr auf die rohe Kraft vertraute. Stachelige Pflanzentriebe peitschten ihn auf seine Hände und stachen in seine fehlerlose Softshelljacke. Fehlerfreiheit, lächelte er in sich hinein. Sie widersteht dem Regen, aber gegenüber kleinen zugespitzten Pflanzentrieben ist sie machtlos. Aber damals, als ich hier mit Milena den ganzen Sommer verbrachte und Martinchen Trapperstücke mit Feuer und Marderfallen lehrte, damals glaubte ich wirklich, dass es möglich war.  Das waren die schönsten Erinnerungen. Zweifellos. In Gedanken stellte er sich Augenblicke voller Sonne vor, voller Selbstbewusstsein des reifen Alters und erfüllt von Fischgeruch. Er nahm den kleinen Martin mehrmals mit zu den Fischen, denn er glaubte, dass die Burschen in der Familie eine gemeinsame Vorliebe haben sollen, die ihnen als Vorwand dienen kann, damit sie sich decken und meinetwegen bis in den frühen Morgen draußen bleiben konnten und gemeinsam alle Siege und Niederlagen und Weiber aus der Klasse übernehmen konnten. Um Fische ging es überhaupt nicht, sie waren wesentlich. Vater und Sohn. Und später als Martin schon größer war, lösten sie hier auch wichtigere Sachen. Warum er zum Beispiel das Geld, dass er ihm gegeben hatte, um sich an der Hochschule anzumelden, für sinnlose Tattoos verplätschert hatte. Und warum er, wenn er sich nun einmal diese Schule ausgesucht hat, so auf sie scheißt und sie nicht einmal ein bisschen ernst nimmt. Das konnte ihm hier gut vorgeworfen werden, man konnte sich damit abfinden und auch Pläne machen.  Nur das dies schließlich auch nicht einem gelang. Ihn warf man aus dem warmen Lehrerpöstchen hinaus und Martin schloss die Schule, die normalerweise vier Jahre dauerte, nach unendlichen sieben Jahren ab.  Auch das haben wir nur wegen dieses Anhängsels vor dem Namen, der ihm bessere Aussichten versprach. Aber das dürfte er nicht feststellen, eigentlich schon lange, schon auf der Schule, dass ihn die Philosophie nicht interessierte, und das einzige, was ihn einmal daran interessiert hatte, war die Vorstellung „Philosoph zu sein“. Danach hatte er noch andere Pläne, aber auch diese erwiesen sich als unrealistisch. Wie diesen Kunstköder, den er sich eigenhändig aus Stücken von Wasserleitungsröhren baute, nur tat er so, erschlich sich eine Illusion, aber es war nicht die Wahrheit. Und Martin fiel jedes Mal darauf herein.  Managen, Einfluss haben, Schotter erarbeiten. Es gefiel ihm diese Chimäre, die verlosch, wenn er nur die Hand danach ausstreckte.  Und als er danach nüchtern wurde, da blieb ihm nur eine gemietete Garcionerre, ein unsicherer Hacken eines Taxlers ohne Lizenz und ein Kind. Ein Kind, zu dem er sich niemals bekannte.

            Wieder das Herz, es springt wie toll. Ivan blieb vor einem riesigen Wackelstein stehen und blickte sich entsetzt um, woher dieser Stein, der mindestens eine Tonne wog, herkam. Nirgendwo ein Bergkamm, von dem er heruntergerollt sein könnte. Die Bühel dort waren eher rundlich, fließend. Die einmal wilde Vulkanlandschaft hatte sich mit der Zeit abgerundet und ließ einen Eichen-Buchenwald mit einer Menge nicht tiefer Klüfte und langgezogenen Wiesen wachsen. Gewiss, er hatte von Wackelsteinen gehört, die zig Kilometer von Eisbergzungen getragen wurden, aber an dieser Stelle hatte er niemals daran gedacht. Außerdem kam es ihm kaum wahrscheinlich vor, dass dieser Brocken ein Überbleibsel irgendeiner längst begrabenen Eiszeit war. Es musste eine andere Erklärung geben. Vielleicht eher Wasser. Aber nicht einmal das hätte ein solches Monstrum herbringen können. Cody kletterte auf den Antesitriesen und weckte Ivan durch kurzes Bellen. Irgendwelche Fragen des Ursprungs quälten ihn nicht. Ivan legte die Hand an den Stein. Dort, wo er ihn berührte, war er kahl, aber von oben war er schon reichlich mit Moos bewachsen. Wie kommt er nur hier her? Außer Eis und Wasser fiel ihm schon keine andere Erklärung mehr ein. Das gab keinen Sinn, trotzdem war er nicht vom Himmel gefallen. „Grüß di,“ rief ein sportlich aussehender Bursche, der sein ebenfalls sportlich aussehendes Mädchen an der Hand führte.  

 „Servus,” grüßte Ivan. „Wohin des Wegs?“

Das gefiel ihm am Aufenthalt in der Natur. Dass man hier einen völlig fremden Menschen ansprechen konnte, ohne dass sie es befremdlich fanden. Ihr seid einfach einer Tierart, haltet zusammen, also warum sollte man nicht ein paar unverbindliche Worte austauschen.

„Nach Holík. Und Sie?“

„Ich weiß noch nicht. Wohin mich mein Guide führt,“ nickte er mit dem Kopf in Richtung Cody.

„Ist das Ihr Hund? Ich habe ihn hier schon gesehen,“ mischte sich das Mädchen in das Gespräch.

„Ich bin eher sein Gastgeber. Irgend so etwas, am ehesten.“

„Das ist also nicht Ihrer?“ stellte sich die schlanke Blondine, deren Körper trotz der Schlankheit nicht zerbrechlich wirkte, mit der Antwort nicht zufrieden.

„Er gehört niemandem.“

„Wer kümmert sich also um ihn?“ wollte jetzt auch schon der Bursche wissen.

„Wen ich hier bin, dann ich. Und wenn ich nicht hier bin, dann wieder jemand anderer.“ Ein solcher Abschluss gefiel dem jungen Paar kein bisschen. Ihre Welt war eindeutig, keine Zweideutigkeiten und kein Verschweigen waren in ihr am Platz. Vielleicht entschlossen sie sich darum, ihre Konversation auf ein Minimum zu reduzieren.

„Dann machen Sie es gut! Und hauptsächlich verlaufen Sie sich nicht, wenn Sie abseits der markierten Wege gehe.“

„Keine Angst. Der Hund kennt sich hier besser aus als Mikoviny.“

„Und wer ist das?“ konnte sich das Mädchen nicht zurückhalten.

„Wer das war? Ein Kartograph. Er baute hier alle die Teiche und Gräben, also nicht alle, aber sicher einige. Er steckte ein ganzes System zusammen, in welche Richtung das Wasser fließt. Woher und wohin es gelassen wird und wo es abgedreht wird. Er musste ein Verrückter gewesen sein, wenn er so etwas Vollkommenes ausgedacht hat.“

„Aha,“ stellte das Mädchen genauso desorientiert wie vorher fest.

„Na gut, dann lauft schon! Und auf dem Weg zurück, legt eine Rast „Zum Touristen“ ein. Sie haben dort ausgezeichnete Ertrunkene.“

„Sie sind also ein Einheimischer?“

„So ein bisschen.“

Wieder diese Unbestimmtheit. Warum macht er das?

„Danke für den Tipp. Und viel Glück bei Ihren Streifzügen.“

Sie spannten den Schritt und brachen zu neuen Gipfeln auf. Ivan schaute noch einmal auf seinen Wackelstein des Anstoßes, als wollte er sagen, siehst du, denen ist alles klar, die gehen nicht verloren. Stattdessen aber streichelte er Cody, der heruntergelaufen war und dem weggehenden Pärchen nachschnüffelte. Der Bursche kontrollierte noch für den Marsch die Zeit. Offensichtlich verdross ihn die kurze Verzögerung mit Ivan. Jetzt mussten sie das einholen. Verliebte Rekordleute, fiel Ivan mit einem Funken Ironie ein. Ihre Herzen sind eher eine leistungsfähige Muskelpumpe als ein Kelch der Liebe. Und überhaupt. Warum schrieb man romantische Gefühle immer dem Herzen zu, und nicht zum Beispiel der Niere? Was ist am Herzen so Außergewöhnliches? Das Denken des Herzens bringt uns zum Mut der augenblicklichen Vertraulichkeit zurück, nicht nur mit uns selbst, sondern auch mit den separaten Gesichtern der Sinneswelt, erinnerte er sich an einen der weniger verständlichen Sätze Hillmans. Gesichter der Sinneswelt, als Metapher geht das durch, aber was kann man im praktischen Leben, im Wald, angesichts des Herzrasens, das der Arzt einem kurz nach dem Fünfzigsten diagnostiziert, damit anfangen?

 

 

Nur das will ich

Mit dem Lachen die Unfruchtbarkeit durchbrechen
wie Abrahams Frau
die Hand ans Häutchen legen
und es ganz nicht spürbar durchstreifen

Umschlag und Frucht zugleich
getragen durch das, was trägt
den Herausgehenden, den Erschöpften

schimmernde Schollen gaben ein Geheimnis preis
in eisiger Frühe
bis ein Reh mit gespaltenem Geweih
vor dieser Durchsichtigkeit erschrak

nicht nachzudenken und zu gehen
gehen wie über ein Minenfeld
betrunken vor heiliger Blindheit
und mit jedem holperigen Schritt
neu die Wonne zu erlernen

gemeinsam mit den unfruchtbaren Vormüttern
die Düsen des Lachens putzen

nur das will ich

 

Abgrund

Irgendjemand werden

und mit einer Handvoll Staub den Abgrund zuschütten. 

Seine Leere nicht erkennen. 

Selbstausflicken.

Den Abstieg nicht wagen,

mit dem Schritt der Persephone ausweichen, 

abschweifen. 

 

Anstelle des Knochens eine Prothese einsetzen.

Und überhaupt nicht mehr vom Mark träumen, 

wo das vor Schaffen schäumt. 

Aus dem Schoß der Vergänglichkeit bluten

und eine Spur erst knapp vor der Dämmerung aufnehmen,

wenn wir das Überflüssige ablegen. 

 

Und am Grund des Abgrundes

ist die ganze Zeit

ein Kern. 

Nackt und unberührt

kann er keine Früchte tragen. 

 

Doch es genügt ein entferntes Erschüttern,

der Widerhall eines Schrittes vielleicht auch eines zufälligen,

dass er erzittert und mit dem Peitscherl des Lebendigen

die Schale spaltet. 

 

Dann presse ich mich an den Abgrund

beuge mich über ihn mit ganzem Körper

und lese an seinen Wänden

meinen Stammbaum ab.

 

Die Stelle, von der ich nichts weiß

Nur das, dass sie ist.
Wirklicher als das Wirkliche,
denn das Unerkannte
richtet sich nach allen Seiten.

Die Stelle ist beschattet
wie die Zelte von Nomaden.
Und unter ihr
der Reichtum.

Milch und Brot.

Wände aus Ziegenhaar
halten die Welt zusammen
die längst überlebt ist.

Irgendwo dort ist Schärfe
eingeschnitten in ein frommes Gesicht
und in die Fingerspitzen.

Irgendwo dort ist Schmerz
der hinter das Gehege gejagt ist
unter die Milcheuter der Schafe

Sich so volltrinken
und hier die ewig gepeinigte

Erde benetzen.

Wenn es anfängt zu regnen, rollen sich die Fäden zusammen
und lassen nicht einen Tropfen hinein.
Aber heute ist es trocken.

Das Zelt bläst sich vollständig auf
und die Euter sind prall gefüllt
bis zur Sättigung.

Übersetzung © Stephan Teichgräber

Utopenec: Traditionelle Spezialität der böhmischen Küche, eine geräucherte Brühwurst, die in einem Sud aus Essig und Wasser mit Zwiebeln und Gewürzen eingelegt wird.

Autor

Slavka Liptáková

SLAVKA LIPTÁKOVÁ (1970) widmete sich

 

Übersetzer

Stephan-Immanuel Teichgräber

Lebenslauf

 
Srdce