Auf dieser Etage leben nur Frauen

Publikation Daten

Verlag: Dokumentationstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publikationsdatum: 4. Feber 2017
Ausgabe: 1. Ausgabe
Vorrätig: YES
E-Mail: doml@chello.at
Land: Austria
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Auf dieser Etage leben nur Frauen

 

„Ich bin über fünfunddreißig”, sagte Edit, dabei war sie fast siebenundvierzig. „Ich war noch nie zuvor in solch einem elenden Zustand.”

Ihr Lachen hallte von den leeren Wänden wider.

„Eine neue Wohnung hilft auch gegen Depressionen. Das weiß ich aus Erfahrung”, sagte der Immobilienmakler lächelnd. Sein Name war Géza, und dies war bereits die zehnte Wohnung, die er Edit zeigte. In diesem Moment ratterte eine Straßenbahn unter dem Fenster vorbei und ließ den Boden und die Wände erzittern. „Genau das habe ich gemeint. Diese Immobilie ist nicht das Richtige für Sie, liebe Edit. Ich verstehe nicht, warum Sie sich immer die schrecklichsten Wohnungen ansehen wollen.”

„Ich brauche keinen Luxus“, erwiderte die Frau kopfschüttelnd.

„Als wäre gerade ein Dinosaurier auf der Straße unter uns vorbeigeprescht. An so einem Ort kann man doch nicht leben.“

„Ist es nicht Ihr Job, auch solche Wohnungen an den Mann zu bringen?“, fragte Edit und schmiegte sich mit dem Rücken an die Wand.

„Für Sie schwebt mir aber etwas Besseres vor. Nur spielen Sie leider nicht mit.“ Géza hob den Zeigefinger. „Das ist nicht nett. Vergeblich zeige ich Ihnen die besten, schönsten Appartements, Sie winken stets nur ab, als wollten Sie sich mit Absicht über mich lustig machen. Es gefällt mir nicht.“

Edit schloss die Augen.

„Mein ganzes Leben lang habe ich falsche Entscheidungen getroffen“, flüsterte sie.

„Genau das meine ich“, sagte Géza und trat zu dem Plastiksackerl, das er bei ihrer Ankunft neben der Tür abgestellt hatte.

„Zum Glück habe ich keinen Krebs“, fuhr die Frau fort. „Dafür danke ich dem Himmel jeden Tag. Die Dankbarkeit ist meine Religion.“

Eine weitere Straßenbahn raste unter dem Fenster vorbei und erschütterte das Gebäude erneut, dabei spürte Edit, wie die Kleidung auf ihrem Körper und das Höschen zwischen ihren Beinen erzitterten.

An Weihnachten war ihr klar geworden, was sie zu tun hatte. Sie musste ihren Mann verlassen, eine Wohnung in einer verrufenen Gegend kaufen und vom Rest des Geldes eine Therapie anfangen.

„Dann trinken wir darauf und auf unser zehnmaliges Jubiläum“, sagte Géza und nahm eine Mineralwasserflasche aus dem Sackerl. „Lassen Sie sich nicht von der Plastikflasche täuschen, Edit, das hier ist ein fünfundvierzig Jahre alter Juhfark[1] aus Somló. Als er hergestellt wurde, waren Sie noch nicht einmal in Planung.“

 

Es war seltsam, aber sie hatte erst vor wenigen Jahren damit begonnen, stolz auf ihren Hintern zu sein. Als junges Mädchen war ihr gar nicht aufgefallen, dass sie einen Weltklasse-Hintern besaß. Edit war groß gewachsen, hatte lange Beine, und wenn sie ihr Gesäß auch nur leicht rausstreckte, kam es ihr gleich so vor, als würde er gen Himmel ragen.

Während die Straßenbahn über die Brücke fuhr, hielten sich Géza und Edit an den Haltegriffen fest, lehnten sich dabei aneinander und wiegten sich im Rhythmus des Fahrzeugs. Auch Géza war groß, sein Haar leicht ergraut, und meistens lächelte er so glücklich, als hätte er das große Los gezogen. Ich könnte auch dieses große Los sein, dachte Edit und schob ihr Gesäß ins Gesicht eines vom Sitz aus zu ihnen herüberschielenden Mütterchens. Um dem Hintern zu entkommen, schmiegte sich das Mütterchen ans Fenster und betrachtete die vorbeirauschende Landschaft. Nur hin und wieder warf sie einen Blick nach hinten, doch da sich die Situation nicht änderte und Edits Gesäß blieb, wo es war, floh sie in ihrer Vorstellung wieder hinaus aus dem Fenster.

„Dort auf der Insel gibt es einen musizierenden Springbrunnen“, sagte Géza und küsste Edit nach jedem zweiten Wort auf den Mund.

„Der musizierende Springbrunnen“, raunte die Frau.

„Dort drüben, siehst du ihn?“ Géza zeigte in der Mitte der Brücke landeinwärts. „Von hier aus ist er nicht zu sehen. Aber er ist dort.“

„Ja, ich weiß“, sagte Edit.

„Ich meine, nicht der Springbrunnen selbst musiziert“, verbesserte sich Géza, „die Musik kommt aus Lautsprechern.“

„Wäre ja noch schöner, wenn der Springbrunnen selbst musizieren würde“, kicherte Edit.

Schon bald kämpften sie sich in einem Haus ohne Aufzug eine spiralförmige Dienstbotentreppe in den dritten Stock hinauf.

„Einmal“, erzählte Géza keuchend, „habe ich in diesem Gebäude eine Wohnung verkauft. Die einer bekannten Pornodarstellerin. Sie war eine sehr kultivierte Frau, ich war ganz erstaunt.“

Die Wand war schon abgenutzt, hier und dort fehlte der Putz. Aufgrund der ungewöhnlichen Höhe der Stufen und der Spiralform der Treppe war das Aufsteigen anstrengend.

„Und woher wusstest du, dass sie eine Pornodarstellerin ist?“, fragte Edit eine Etage höher. „Du kleiner Schlawiner.“

Géza blieb mit pfeifenden Lungen stehen, legte eine Hand auf seine Brust und atmete tief durch.

„Du hast das falsch gedeutet. Ihr Wohnzimmer war voll mit Bildern und diesen Porno-Oscars. Aus ein paar Metern Entfernung sehen sie noch aus wie das Original, doch aus der Nähe ist zu erkennen, dass es nicht nur eine, sondern zwei Figuren sind, sozusagen in Aktion.“

Die zum Verkauf stehende Wohnung konnte durch eine Metalltür am oberen Ende der Spiraltreppe betreten werden. Der Besitzer war auch diesmal nicht zugegen, er lebte nicht hier und hatte die Schlüssel dem Makler anvertraut. Die Fenster des Raumes öffneten sich auf eine Brandmauer.

„Diese Brandmauer ist hübsch“, sagte Edit nachdenklich und stützte sich auf der Fensterbank ab. „So schön weiß. Als wäre sie frisch gestrichen.“

Géza wischte den Staub von einem dort vergessenen Plastiksessel und ließ sich darauf sinken.

„Ich würde dich nie an einen solchen Ort bringen, wenn du nicht darauf bestehen würdest“, sagte er, dann hustete er lange. „Wer kauft denn bitte eine Wohnung, die auf eine Brandmauer blickt?“

„Vielleicht kaufe ich sie ja“, erwiderte Edit lächelnd, drehte sich um und streifte absichtlich die Wand mit dem Hintern.

„Ich bitte dich“, sagte Géza zwinkernd, „das ist gar nicht dein Ziel.“

Kurze Zeit später saß Edit bereits in Gézas Schoß. Unversehens fiel ihr ein Obdachloser ein, der vor ihrem Haus zu betteln pflegt. Sogar im Winter lungert er dort mit seinen bis zum Rande vollgestopften Plastiksackerln herum, und wenn Edit an ihm vorbeigeht, raunt er ihr etwas zu und sieht sie mit wässrigem Blick an. Wenn sie oben vom Balkon nach unten blicken, sieht er hoch und lächelt.

„Wieso gehen Sie nicht endlich woanders hin?“, hatte Edits Mann einmal gefragt und auf die Straße gespuckt, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen.

Während sie nun Gézas Lenden massierte, hörte und verstand sie erst jetzt im Nachhinein, was der Obdachlose immer zu ihr sagte.

„Sie geben mir nie auch nur einen Forint, und ich liebe Sie trotzdem so sehr.“

 

Auf einer unbeleuchteten Straße eilten sie auf eine unbekannte Kneipe zu.

„Ich war noch nie im Dunklen in dieser Gegend“, kicherte Géza. „Dabei verkaufe ich hier oft Wohnungen. Sie kaufen sie sogar, die Elenden.“

„In diesem blauen Haus dort waren wir schon einmal“, sagte Edit.

„Das blaue Haus, du meine Güte, da habe ich dich auch hinbringen müssen. Das ist ein richtiges Drecksloch.“

Orangefarbenes Licht empfing sie beim Betreten der Kneipe. Den lauten Bass unter ihren Füßen im Keller spürten sie eher, als dass sie ihn hörten. Sie kauften an der Bar zwei Krüge Weizenbier und stiegen dann die Treppe hinunter. Als sie die Tür öffneten, hatte Géza das Gefühl, die Lautstärke würde ihm den Kopf wegpusten.

„Was hast du gesagt, wie nennt man das?“, schrie er.

„Psychedelisches Improvisations-Irgendwas“, schrie Edit zurück, „mit Metal-Elementen.“

„Du überraschst mich immer wieder aufs Neue“, brüllte Géza, wobei genau in diesem Moment die Musik leiser wurde. Der Mann schlug sich die Hand auf den Mund. „Ups.“

Die Stille hielt nur wenige Sekunden an, dann tobte die Musik weiter und die Menschen im Raum begannen wieder mit neuem Elan zu nicken, genau wie die Musiker auf der Bühne. Edit ging weiter nach vorne, während Géza bei der Tür blieb und mit einer Geste signalisierte, dass er keinen Wert darauflege, näher bei der Bühne zu stehen, und dass er dankend verzichte.

Edit hatte diese Band auf der Facebook-Seite eines Freundes ihres Sohnes entdeckt, aus Versehen auf eine Aufnahme geklickt und sie dann nicht mehr ausgeschaltet, mehr noch, später hatte sie sich sogar auf das Konzert gewagt. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie etwas Lauteres gehört. Das Kreischen der Gitarre und das Dröhnen des Basses hatte sie nicht nur mit dem Ohr, sondern mit ihrem ganzen Körper in sich aufgenommen. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass jede ihrer Zellen bebte und sie zwischen den Tönen trieb, und offenbar hatten alle anderen ebenso empfunden. Sie befand sich seit einer Weile in solch einem elenden Zustand, dass sogar Poplieder sie zum Weinen brachten, doch diese lärmende Musik trieb ihr endlich keine Tränen in die Augen. Auch diesmal spürte sie nach wenigen Sekunden, dass sie von Kopf bis Fuß vibrierte und alles in ihr dröhnte, dass sie mit jedem Atemzug Töne in ihrer Lunge aufnahm. Das ist besser als Meditation, sagte sie sich immer und immer wieder.

Sie bemerkte gar nicht, wann sie sich zur Musik zu wiegen begann, Bier hatte sie mittlerweile keines mehr, der leere Krug ruhte ein Stückchen weiter auf dem Boden. Nicht sie selbst bewegte ihren Körper, sie überließ sich einfach dem Tanzen. Dafür muss man reifen, mit zwanzig Jahren ist der Mensch nicht dazu fähig, sich so gehen zu lassen, dachte sie, während sie den Oberkörper in einem immer größeren Bogen kreisen ließ. Dann waren sie plötzlich zu zweit, eine kleine, blondierte Frau zappelte in ihrer Nähe, und es war, als würden ihre Bewegungen auf Edits Bewegungen antworten. Sie dürften etwa gleich alt gewesen sein, die Frau hatte Pickelnarben im Gesicht, ihr Kopf war groß, ihr Körper klein. Sie ist recht hässlich, stellte Edit fest und verspürte Mitleid. Im Übrigen hatte sie nie das Bedürfnis gehabt, sich mit Frauen einzulassen, besonders bei älteren, verbitterten Exemplaren schauderte ihr, doch nun wich sie nicht zurück und ließ der anderen das Gefühl, sie würden miteinander tanzten.

So ging es eine ganze Weile, die Band spielte seit mindestens anderthalb Stunden ohne Unterbrechung und war längst gemeinsam mit dem nickenden Publikum in eine andere Dimension gerutscht, mit Ausnahme des Maklers Géza, der weder ungeduldig noch unzufrieden war, jedoch die Geschehnisse als Außenstehender verfolgte, während er fleißig ein Weizenbier nach dem anderen kippte. Auch in diesem Moment bestellte er gerade einen neuen Krug, dann suchte er mit den Augen nach Edit, es war nicht schwer, sie zu finden, da sie größer als der Durchschnitt war und sich so verbog wie anmutige Pappeln im Wind. Doch je länger er sie beobachtete, desto mehr störte ihn diese zerzauste Gestalt, eine kleine Frau mit blondiertem Haar, die Edit wie eine Gelse umschwirrte. Mal bedrängte sie Edit von der einen, mal von der anderen Seite, während sie keine Sekunde lang ihre Glupschaugen von ihr löste und die Arme in ihre Richtung schwingen ließ, als wollte sie sie regelrecht betören. Jesses Maria, das ist eine Lesbierin, dachte Géza, griff unverzüglich nach seinem Bier und ging Richtung Bühne. Vorsichtig schlängelte er sich zwischen den ekstatischen Zuschauern durch, weil er niemanden umstoßen wollte, dabei war die kleine Frau schon im Begriff, sich Edits Mund mit ihrem eigenen zu nähern, die konsequent gespitzten, blutleeren Lippen ließen an ihren Absichten keinen Zweifel.

„Was will die von dir?“, fragte er Edit, als er sie erreichte. Die Frau schlug die Augen auf, lächelte ihn müde an und zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Ich habe keine Ahnung, aber ganz dicht ist sie bestimmt nicht. Géza beruhigte diese Geste ganz und gar nicht, aber was ihn eigentlich so wütend machte, konnte er im Nachhinein selbst nicht erklären, es waren nur wenige Sekunden, wohl wahr, doch diese reichten vollkommen dafür aus, dass er seine rechte Hand zur Faust ballte und zum ersten Mal in seinem Leben versuchte, jemandem eine reinzuhauen.

 

Es dämmerte. Edit und die kleine Frau saßen auf einer Bank.

„Du hättest nicht einschreiten müssen“, sagte die kleine Frau zum wiederholten Male. „Das war vollkommen überflüssig. Ich kann mich selbst verteidigen, wenn es sein muss. Aber vor solchen traurigen Gestalten habe ich ohnehin keine Angst. Wer war das überhaupt?“

„Habe ich doch schon gesagt, er ist mein Makler“, seufzte Edit, während sie die Hand an das vom Schlag noch immer schmerzende Gesicht hielt. „Er sucht für mich eine Wohnung hier in der Gegend.“

„Wozu brauchst du dafür einen Makler? Haie sind sie alle miteinander. Ohne Ausnahme. Warum suchst du dir nicht selbst eine Wohnung? Übrigens würde ich mich niemals mit einem Mann abgeben, der Socken unter den Sandalen trägt. Igitt. Wie zum Teufel ist jemand zu so etwas fähig?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte Edit.

Übersetzung©Agnès Nagy

 

[1] Ein Weißwein aus dem Komitat Somló (heißt auf Ungarisch „Lämmerschwanz”).